Baikal, der Vater aller Seen
N 53°02'24.1'' E 106°57'53.3''Tag: 49
Sonnenaufgang:
06:13 Uhr
Sonnenuntergang:
21:43 Uhr
Luftlinie:
299,17 Km
Tageskilometer:
320 Km
Gesamtkilometer:
12321.77 Km
Bodenbeschaffenheit:
Erdpiste
Temperatur – Tag (Maximum):
30 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
20 °C
Temperatur – Nacht:
8 °C
Breitengrad:
53°02’24.1“
Längengrad:
106°57’53.3“
Maximale Höhe:
605 m über dem Meer
Maximale Tiefe:
430 m über dem Meer
Aufbruchzeit:
07.45 Uhr
Ankunftszeit:
19.00 Uhr
Durchschnittsgeschwindigkeit:
11,7 Km/h
“Mhh ist das lecker”, lobt Tanja das Frühstücksbuffet des Hotels. “Sehr lecker. Müssen wir echt genießen. Die nächsten Wochen werden wir so etwas nicht bekommen”, überlege ich, weil wir vorhaben einige Zeit auf der Insel Olchon am Baikal zu verbringen. Bereits um 7:45 Uhr treten wir unsere Räder zur Fährstation. Wegen der schlechten Straßen und den vielen Bergen auf Olchon haben wir die Anhänger im Hotel gelassen und nur einen Teil der Ausrüstung mitgenommen. Ohne diese Last kommen wir schnell voran und befinden uns wenig später am Hafen. Die ersten Traveller treffen ein als wir unsere riese und müller gegen die Reling lehnen. “Schau mal, da sind Radfahrer”, sage ich auf ein Pärchen deutend, die ihre Räder in unsere Richtung rollen lassen. Maria und Alexander kommen aus einer abgelegenen Region von Nordsibirien und wollen mit ihren Rädern die Insel Olchon durchqueren. Maria hat außer einer Isolationsmatte nichts auf ihrem Fahrrad geladen und auf Alexanders Drahtesel befinden sich nur zwei mittelgroße Satteltaschen. “Entweder wir haben viel zu viel dabei oder die beiden viel zu wenig”, sinniere ich. Dann legt das Schiff an. Hektisch besteigen die Touristen das Boot. Am Schluss dürfen wir unsere Räder an Bord bringen. Da der wenige Platz auf dem Vorschiff von den Arbeitern benötigt wird, müssen wir unsere Räder in das Innere des Wasserfahrzeugs stellen. Kaum sind unsere Vehikel verstaut und die Satteltaschen auf die Gepäckablage geschlichtet, legt die Bargusin schon ab. Von den ca. 100 Sitzen sind nur 30 belegt. Wir besitzen also die Wahl uns dahin platzieren zu können wo wir wollen.
Kekse essend und Tee trinkend beobachten wir durch die großen Fenster der geschlossenen Kabine die vorbeiziehende Taiga. Ähnlich wie in einem Flugzeug gibt es fünf Sitze links und vier Sitze rechts des breiten Mittelganges. Ab und zu steige ich am Ende der Kabine die Treppe hoch. So gelangt man auf das Hinterschiff ins Freie, wo einem der Fahrtwind um die Ohren pfeift. Nie hätten wir gedacht auf solch bequeme Weise den Baikal sehen zu dürfen. “Ein fantastischer Tipp von Pater Andrej”, geht es mir durch den Kopf, das dicht bewachsene Ufer des Flusses Angara beobachtend, der am Südwestende des Baikalsees entspringt und dessen einziger Abfluss ist. Nach dem was ich gelesen habe ist die Angara einer der großen Flüsse Sibiriens und müsste trotz ihrer gewaltigen Abflussmenge etwa 400 Jahre lang fließen, bis der Baikalsee geleert wäre. Nur ca. 60 Kilometer folgen wir dem breiten Strom bis zu seinem Ursprung, dem legendären Baikal, einem unserer größten Zwischenziele der gesamten bisherigen Trans-Ost-Expedition. Tanja und ich sind gespannt auf den Baikal, den Vater aller Süßwasserseen dieser Erde. Dem See der auch das blaue Herz Sibiriens oder das heilige Meer genannt wird. Die Russen haben das Wort Baikal, wie auch viele der anderen geografischen Bezeichnungen dieser Region, von den hier lebenden Volksstämmen übernommen. Das burjatische Wort für See war Baigal-nuur. Die Mongolen nannten ihn Baigal-murän oder Dalai-noor, was soviel heißt wie heiliges Meer. Die Chinesen gaben ihm den Namen Bai-chai, also nördliches Meer, um nur einige der unterschiedlichen Begriffe für den See zu nennen.
Als die Bargusin, durch die breite Mündung der Angara in den beeindruckenden Baikal gleitet, bleibt mir fast die Luft weg. Jetzt, in diesem Augenblick haben wir es erreicht, das größte und mit 25 Millionen Jahren das älteste Reservoir flüssigen Süßwassers der Erde. Ein Fünftel, also 20 % der gesamten Süßwasserreserven unserer Mutter Erde, lagern in diesem gewaltigen Graben. “Kaum zu glauben. An der tiefsten Stelle liegt der Grund 1.637 Meter unter uns. Kein See der Welt erreicht solch eine Tiefe”, sage ich bald ehrfürchtig zu Tanja, die gebannt auf die unvorstellbare Fläche von 31.492 Km² Wasser blickt. Vor uns können wir das Ende des Sees nicht erkennen. Kein Wunder, denn seine Länge beträgt von einem Ufer zum anderen 673 Kilometer. An der breitesten Stelle liegen die Küsten 82 Kilometer auseinander. “Wenn man bedenkt, das es nicht mehr lange dauern wird, bis Wasser mehr wert ist als Erdöl und die Menschen deswegen Kriege beginnen, ist Russland unabhängig von seinen enormen Bodenschätzen, schon wegen dem Baikal, das reichste Land der Welt”, überlege ich und denke daran das die Russen, als sie im Jahre 1643 diesen flüssigen Schatz entdeckten, nicht ahnen konnten wie wertvoll das Süßwasser einmal für die Menschheit sein würde. Insgesamt befinden sich in diesem überdimensionalen Becken, welches von 336 Flüssen und unzähligen Bächen gespeist wird, ein Wasservolumen 23.000 Km³. Damit ist es größer als das der Ostsee und entspricht etwa dem 480-fachen Wasserinhalt des Bodensees. Mit seiner Uferlänge von rund 2.125 km ist der Vater aller Seen nach dem kaspischen Meer das zweitgrößte Gewässer in Asien.
Kaum haben wir das Mündungsgebiet der Angara hinter und gelassen, legt die Bargusin am Strand des heutigen Touristenortes Listwjanka an. Weitere Gäste betreten das Schiff. Zwei Motorradfahrer stehen mit ihren schwer beladenen Maschinen im Sand und sehen zu uns hoch. “Die wollen doch nicht etwa aufs Schiff kommen?”, frage ich mich, denn die etwa 40 Zentimeter schmale und dünne Bordleiter führt in einem steilen Winkel von ca. 40 Grad nach unten zum Strand. “Unmöglich das da ein Motorrad hinauffahren kann ohne sich glatt zu überschlagen. Und wenn er wirklich oben ankommen sollte knallt er einfach gegen die Bordwand. Selbst ein Akrobat hätte Probleme so eine Unlösbarkeit zu meistern ohne seinen Hals zu riskieren”, denke ich weiter und packe meine Videokamera aus, um das Ereignis festzuhalten. “Alle rein! Gehen sie in den Passagierraum!”, werden andere Gäste und ich aufgefordert das Vorschiff zu verlassen. Da ich in einem Bereich stehe der keinen stören kann, bleibe ich stehen und drücke den Aufnahmeknopf. Der Motor der ersten Maschine heult auf. Mutig dreht der Biker den Gashahn hoch, löst die Bremsen und seine Geländemaschine schießt die Leiter nach oben. Nun ereignet sich alles in Sekundenbruchteilen. Kaum hat auch der Hinterreifen die steile Stahltreppe berührt, verliert der Vordere die Bodenhaftung. Das Motorrad inklusive Fahrer überschlägt sich. Der Fahrer wird aus seinem Sattel geschleudert und knallt mit dem Rücken auf die Stahlstufen. Nur ein Augenzwinkern danach kracht das riesige Geländemotorrad auf den armen Mann. “Ahhh!”, schreien alle vor Entsetzen und die Crew stürzt zu dem Verunglückten, um die schwere Maschine von ihm zu wuchten. Wie eine zertreten Ameise krabbelt der Fahrer unter dem Eisengefährt hervor. Ich kann meinen Augen kaum trauen als der Fahrer seine Helfer unterstützt die Geländemaschine aufzurichten. So wie es scheint ist er wie durch ein Wunder unverletzt geblieben. Jetzt holt ein Besatzungsmitglied ein Schiffstau. Sie befestigen es am Vorderbau der Maschine und zerren nun mit vereinten Kräften das Vehikel auf das Dach der Bargusin. Als der Verunglückte die Kabine betritt frage ich ihm nach seinem Befinden. “Alles in Ordnung. Ich habe anscheinend viel Glück gehabt. Leider ist es unserem Freund nicht so gut ergangen. Er hat sich bei einem Unfall den Kopf verletzt und musste seine Reise abbrechen. Jetzt sind wir zu zweit. Wir kommen aus der Ukraine und wollen bis an den nordöstlichsten Punkt von Russland. Dort, wo es nur noch ein Katzensprung bis nach Alaska ist”, erklärt er. “Wie viel Zeit habt ihr für diese große Tour?”, frage ich. “Insgesamt einen Monat.” “Einen Monat? Das ist aber sehr knapp bemessen”, wundere ich mich. “Das schaffen wir schon. Denke, dass wir insgesamt 25.000 Kilometer herunterreißen müssen.” “Was? 25.000 Kilometer in einem Monat? Und das bei diesen Straßen. Ab Irkutsk gibt es keinen Asphalt mehr. Das bedeutet über 800 Kilometer Schotter und Lehm am Tag. Ist das machbar?” frage ich verblüfft. “Ja”, antwortet er. “Na da wünsche ich euch viel Glück und Gesundheit”, erwidere ich und setze mich zu Tanja in einen der Sessel.
Das Ufer gleitet langsam vorbei. Konzentriert blicken wir auf die Küste. “Vielleicht entdecken wir ja einen”, sage ich. “Du meinst einen Braunbären?”, fragt Tanja. “Ja.” Jedoch tauchen an diesem Küsteabschnitt immer wieder kleine Dörfer und auch viele Zelte der Baikaltouristen auf. Zeichen der Zivilisation, die wenig darauf hoffen lassen, einen der größten Landraubtiere unserer Erde zu erblicken. “Hätte nicht gedacht hier auf einen waschechten Tourismus zu treffen”, meine ich als unser Schiff in einer weiteren Bucht anlegt. Gleich hinterm Strand stehen ca. 40 Zelte und viele Holzhütten. Etwa 30 russische junge Traveller besteigen, mit schweren Rucksäcken bepackt, unser Boot. So wie es aussieht springen sie mit der Fähre von Insel zu Insel und von Strand zu Strand. In Handumdrehen ist die Ruhe vorbei und unsere Räder verschwinden unter einem großen Haufen von Reisegepäck.
“Steigt ihr auch am Anfang von Olchon aus oder fahrt ihr bis zum Hauptdorf Chushir?”, fragt mich der Radfahrer Alexander, der ein wenig Englisch spricht. “Wir haben bis nach Chushir bezahlt. Wusste gar nicht das man früher raus kann”, antworte ich. “Wenn ihr die Insel wirklich mit euren Rädern befahren wollt ist es besser mit uns auszusteigen und das kurze Stück vom Festland bis Olchon mit einer Fähre zu überbrücken”, schlägt er vor. “Wie lange ist die Insel überhaupt?” “72 Kilometer”, antwortet er und zeigt mir seine Detailkarte. Nach einigen Überlegungen beschließen wir mit Maria und Alexander die Bargusin früher zu verlassen als geplant. “Denke das ist eine gute Entscheidung”, plaudere ich. “Glaube ich auch. So sehen wir wenigsten die ganze Insel”, antwortet Tanja.
Um 17:00 Uhr, nach acht Stunden Fahrt, bricht plötzlich Hektik aus. “Wir sind da. Macht euch fertig”, fordert uns Alexander auf. In Windeseile bringen wir nun unsere Räder und Ausrüstung vom Schiff. Kaum haben wir den Anlegesteg betreten werden die Taue der Bargusin schon wieder eingezogen. “Hast du die zweite Lenkertasche?”, ruft Tanja erschrocken. “Nein habe ich nicht!”, antworte ich und weil sich in ihr das GPS, Tachos, Windmesser, Pfeffergas, Schlüssel für unsere Schlösser und einiges andere Wichtige befindet, fühle ich wie mir ihre Frage in die Glieder fährt. Sofort hüpfe ich noch mal auf das Schiff. Aus dem Bordlautsprecher fordert mich der Kapitän auf umgehen das Boot zu verlassen. “Meine Lenkertasche!”, rufe ich verzweifelt und kann sie in dem Berg von Koffern, Taschen und Rucksäcken der Touristen nicht ausmachen. Plötzlich fällt mir ein, dass sie noch am Lenker hängen muss und eile wieder nach draußen. “Ist sie am Lenker?”, rufe ich Tanja zu. “Ja”, antwortet sie. Mit klopfenden Herzen stehe ich wieder am Steg als die Motoren dröhnen und der eiserne Rumpf der Bargusin durch das glasklare Wasser des Baikals furcht.
Gleich auf der anderen Seite des hölzernen Stegs hat eine Autofähre festgemacht die uns ans Ufer der Insel Olchon bringen soll. Dunkle Gewitterwolken ziehen auf als wir die Ortliebtaschen an unseren Rädern befestigen. “Beeil dich. Wir müssen unsere Regensachen anziehen!”, sage ich. Kaum haben wir uns für das anrollende Wetter angezogen, donnert und blitzt es am Firmament beängstigend. Die Temperatur stürzt von 32 Grad im Schatten auf 15 Grad und der Wolkenbruch ergießt sich über uns. Maria und Alexander sind innerhalb weniger Sekunden bis auf die Haut durchnässt und bibbern am ganzen Körper. Die Fähre legt ab und pflügt sich durch die aufkommenden Wellen. Nur 1 ½ Kilometer später legt sie bereits am Ufer der Insel an. “Wollt ihr euch erstmal unterstellen?”, fragt Tanja die beiden schlecht ausgerüsteten Sibirier. “Nein, lasst uns aufbrechen”, antwortet Alexander. Schon nach 50 Metern führt die Erdepiste auf einen Berg. Maria steigt sofort ab. Sie kann nicht mehr. Hustend und frierend steht sie mit verzerrtem Gesicht neben ihren Rad. Ihr Freund packt eine Schnur aus, befestigt sie am seinem Gepäckträger und am Lenkerrohr von Marias Gefährt. So überwinden sie die erste Steigung. Oben angekommen fragen sie uns ob wir Wasser dabei haben. “Ja, aber für vier Personen könnte es knapp werden”, antworte ich. Maria beginnt mit ihrem Freund zu schimpfen. Dann rollen wir die Anhebung wieder hinunter. Es geht über glitschig, nassen Lehm und Gestein. Für ungeübte Radler eine echte Herausforderung. Da Maria erst vor kurzer Zeit das Radfahren von Alexander gelernt hat und bisher offensichtlich keine Zeit hatte zu üben, wackelt sie auf ihrem Gestellt beängstigend hin und her. “Wir sollten ein Camp aufsuchen. Was haltet ihr davon?”, schlägt Tanja vor. Maria und Alexander nicken, weshalb wir bereits vier Kilometer hinter der Fähranlegestelle in einer malerischen Bucht, nur 20 Meter vom Wasser entfernt, unsere Zelte aufschlagen.
Völlig gerädert und schwer hustend steht Maria frierend am Seeufer. “Gut, dass wir eine hochwertige Ausrüstung besitzen. Ich werde mich in Zukunft nicht mehr über mein schweres Gepäck beklagen”, sagt Tanja den Kocher anwerfend. Als es zu regnen aufhört steigt Maria auf ihren Drahtesel, um einige Runden um unser Camp zu drehen. Verzweifelt versucht sie wieder Wärme in ihren Körper zu bekommen. “Ihr Husten klingt nach einer Lungeentzündung. Denke, dass der Trip nicht gut für sie ist”, äußere ich mich besorgt.
Als sich die Sonne mit einem kaum zu beschreibenden Farbenspiel von diesem Tag verabschiedet, sitzen wir am Ufer des Baikals. Wir haben ein Räucherstäbchen in den Sand gesteckt, um mit einem bescheidenen Opfer das heilige Meer zu begrüßen und seine Götter gnädig zu stimmen. Dann verschwindet der rote Ball hinter den Bergen. Die Wolken verändern augenblicklich ihre Farbe. Ihre unterste Schicht strahlt in verschiedenen Lilatönen, die umso weiter von den letzten Lichtstrahlen entfernt, immer dunkler werden, bis sie ein Schwarzblau absorbiert. Gleich hinter den Bergen, dort wo vereinzelte Strahlen, der bereits vergangenen Sonne noch hervorspitzen, zeigen sich die Wolken in orange und orangegelb. Unterschiedliche Blautöne trennen sie voneinander, weshalb jede einzelne von ihnen wie ein Kunstwerk in den Himmel gepinselt ist. Auf der anderen Seite des Sees erhebt sich der zackige Gebirgszug, der zu dieser Minute wie ein Scherenschnitt wirkt. Am Fuße des ausgerissenen, bizarren Schattenrisses, erstreckt sich der Baikal, in dessen leicht welligen Oberfläche sich der abendliche Himmel in seiner vollen Farbenpracht spiegelt. Noch lange sitzen wir da. Bis die aufkommende Nacht die letzten Farbtupfer verschlungen hat. Dann gehen wir in unser Zelt und lauschen dem leisen Schwappen der sanften Wellen, lauschen dem Schrei einer Möwe, dem leichten Flattern der Zeltbahn und sind glücklich diesen Augenblick erleben zu dürfen.