Am Rande des Abgrunds
N 33°18’39.3’’ E 108°18’29.8’’Datum:
16.02.2016 bis 17.02.2016
Tag: 232 -233
Land:
China
Provinz:
Shaanxi
Ort:
Ningshan
Breitengrad N:
33°18’39.3’’
Längengrad E:
108°18’29.8’’
Tageskilometer:
53 km
Gesamtkilometer:
12.184 km
Luftlinie:
34.51 km
Durchschnitts Geschwindigkeit:
20.4 km/h
Maximale Geschwindigkeit:
52.2 km/h
Fahrzeit:
2:35 Std.
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt / Eis / Schnee
Maximale Höhe:
2.299 m
Gesamthöhenmeter:
19.922 m
Höhenmeter für den Tag:
802 m
Sonnenaufgang:
07:31 Uhr – 07:30 Uhr
Sonnenuntergang:
18:30 Uhr – 18:30 Uhr
Temperatur Tag max:
8°C
Temperatur Tag min:
minus 5°C
Aufbruch:
12:00 Uhr
Ankunftszeit:
16:30 Uhr
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
Wegen der bevorstehenden Passüberquerung und dem unbequemen Bett, habe ich kaum geschlafen. Völlig gerädert, wahrscheinlich auch wegen dem gestrigen, anstrengenden Tag, öffne ich die Reißverschlüsse meiner Schlafsäcke und blicke durch die trübe Fensterscheibe auf den dunklen Nadelwald, der sich unweit hinter dem Haus über einen Bergrücken erstreckt. Noch hat die Morgensonne es nicht über die Spitzen der Berge geschafft, weshalb der kleine Ort in deren Schatten friert. „Am liebsten würde ich liegen bleiben“, sage ich gähnend, schließe schnell wieder die Reißverschlüsse und verkrieche mich in die Wärme der zwei Schlafsäcke. Um 9:00 Uhr ist es noch kein Grad wärmer geworden. Obwohl die heutige Etappe nur ca. 55 km weit ist, müssen wir über den hohen Pass. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als die Wärme unserer Bettstatt zu verlassen. Wir schlüpfen in unsere verschwitzte Radkleidung und steigen die in Beton gegossenen Stufen nach unten, um uns am einzigen Waschbecken des Hauses das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen. Damit sich die Hausbewohner bei ihrer Morgentoilette keine Erfrierungen einhandeln, steht neben dem Waschbecken eine Thermoskanne mit heißem Wasser, welches man in einer Plastikschüssel mit dem Frostwasser mischen kann. Die Toilette ist, wie auf dem Land oft üblich, ein eingefasstes Loch im Boden. Damit man auf dem gefrorenen Urin nicht ausrutscht, sind Sägespäne gestreut. Nach der kurzen Körpereinigung, tragen wir unsere Radtaschen, geladenen Akkus und alles andere die Stufen hinunter. Wieder werden wir von helfenden Händen unterstützt.
Die Sonne hat bereits die Bergrücken überklettert. Wir sitzen neben unseren beladenen Bikes, zum ersten Mal seit wir in China sind im Freien, und frühstücken vor dem Restaurant gegenüber. Diesmal gibt es einen gehäuften Teller mit Reis, Eiern und Gemüse. Es ist bereits 12:00 Uhr als wir uns auf die Sättel schwingen und das Dorf mit seinen hilfsbereiten und freundlichen Bewohnern hinter uns lassen. Kaum haben wir das Ortsschild passiert, beginnt die angekündigte Steigung. Da unsere Akkus voll sind und der Anstieg nicht länger als 15 Kilometer sein soll, nehmen wir es gelassen. Bis auf eine Höhe von 1.600 Meter ist von Eis und Schnee nichts zu sehen. „Vielleicht ist ja schon alles weggetaut?“, meint Tanja zuversichtlich. Ab 1.700 Meter tauchen dann die ersten kleineren Schneeflächen auf. Wir weichen ihnen aus und kommen weiterhin ohne Schwierigkeiten gut voran. In einer Höhe von 1.800 Meter müssen wir bereits Slalom um die immer häufiger auftretenden Eisflächen fahren und bei 1.900 Meter liegen große Bereiche der Straße, zumindest auf der Nordseite der Berge, völlig unter Eis und Schnee. „Ist verdammt glatt!“, warne ich Tanja, als mein Hinterreifen plötzlich durchdreht und mein schwer beladenes Rad kurz gefährlich ins Schlingern gerät. „Fahr ganz rechts durch den Schnee! Dort besitzen die Reifen einen besseren Griff!“, rufe ich. Unter ihnen knirschen Schnee und Eis. Rechts von uns geht es steil in die Tiefe. War der Anstieg vor wenigen hundert Metern noch recht angenehm, wird er auf einmal zum Himmelfahrtskommando. Plötzlich höre ich Tanja hinter mir Rufen. Ich ziehe vorsichtig die Rückbremse und stehe augenblicklich. Tanja strampelt hochkonzentriert etwa 50 Meter hinter mir. Sie hat keinen Laut von sich gegeben. Es war das Knirschen oder irgendetwas anderes was mich dies glauben lies. Als sie sieht, dass ich stehe, ist sie im Begriff ebenfalls anzuhalten. „Bloß nicht stehen bleiben! Fahr ganz langsam und bedacht weiter! Sobald die Reifen zum Stillstand kommen geht nichts mehr!“, warne ich. Dann keucht sie fast im Schritttempo an mir vorbei. Nur eine kleine Unaufmerksamkeit, eine falsche Lenkbewegung und sie würde unweigerlich stürzen. „So ein Wahnsinn“, geht es mir durch den Kopf. Tanja verschwindet indes hinter der nächsten Biegung. Ich überlege wie ich es anstellen soll aus meiner Situation unbehelligt herauszukommen. Es ist derart glatt, dass ich nicht mal einen Fuß heben kann, um ihn über die Mittelstange zu schwingen. Keine Chance. Wie erstarrt stehe ich da und weiß nicht was ich machen soll. Anhalten war auf diesem Untergrund das absolut Falsche. Nachdem ich mein Rad keinen Millimeter weiter nach oben schieben kann, lasse ich es langsam rückwärts rollen. Sofort knickt der Hänger ein. Da man mit Anhänger immer in die entgegen gesetzte Richtung Lenken, also umgekehrt denken muss, kann es geschehen, dass man nicht weiter zurückfahren kann weil sich der Hänger parallel ans Rad stellt. Genau das ist jetzt geschehen. Um mich aus dieser Lage zu befreien müsste ich wieder nach vorne fahren. Das ist wegen dem eisigen Untergrund unmöglich. Also brauche ich Tanja, damit sie mir hilft das Rad vom glatten Untergrund zu schieben. „Tanja! Taaanja!“, rufe ich, weil ich hoffe gehört zu werden und damit rechne, dass die Eisfläche hinter der Kurve unterbrochen ist und sie dort auf mich wartet. Außer dem Zwitschern einiger Vögel bekomme ich keine Antwort. „So ein Mist“, fluche ich. Dann wage ich es erneut meinen rechten Fuß über die Mittelstange zu heben. Dabei rutscht der Linke fast weg. Nur mit viel Glück kann ich das Rad halten. Eine Möglichkeit wäre, mich tatsächlich mit Rad auf die Straße zu legen, um dann unter ihm herauszukriechen. So eine verfahrene Situation. „Konzentrier dich Denis“, ermahne ich mich. Ich stehe völlig ruhig da und atme tief ein und aus. „Jetzt“, befehle ich mir selbst und hebe noch mal meinen rechten Fuß. Diesmal klappt es tatsächlich ihn ohne zu fallen neben das Rad zu bekommen. Ich lasse eine Minute verstreichen und versuche nun das Rad zu schieben. Sofort rutsche ich mit beiden Füßen weg. Dann stelle ich das Rad auf den Seitenständer, kupple den Anhänger ab, schiebe das E-Bike von der Eis- auf eine Schneefläche, hole den Anhänger und kupple ihn wieder an. Ajaci quietscht vergnügt und meint das Ganze sei nur ein Spiel. Klar, könnte ich ihn jetzt aus dem Hänger lassen. Das würde mir das Anfahren erleichtern. Jedoch müsste ich ihn mit seiner Leine an die Spezialvorrichtung klicken, die am Gepäckträger befestigt ist. Das heißt wiederum, dass Ajaci während der diffizilen Fahrt exakt neben dem Rad laufen muss. Also nicht an der Leine ziehen darf, was er meist macht, wenn er frisch ans Rad kommt. In diesem Fall würde es mich auf jeden Fall auf die Nase legen. Ihn frei laufen zu lassen ist auch keine gute Idee weil immer wieder einmal Autos den Pass herunter brechen. Denen scheint die Glätte egal zu sein oder es ist ihnen auf ihren vermeintlich sicheren vier Reifen nicht bewusst wie glatt es hier wirklich ist und wie nah den Insassen der Tod aus der Tiefen Schlucht zuwinkt. Also steige ich wieder auf mein Riese und Müller und trete vorsichtig in die Pedale. Sofort dreht der Hinterreifen durch und zwingt mich zum Absteigen. Beim dritten Versuch klappt es. Langsam komme ich voran. Zwar schlingern die Reifen, aber es geht wieder aufwärts. Nur wenige hundert Meter hinter der Biegung hat Tanja tatsächlich angehalten. „Wo warst du denn so lange? Hatte mir schon Sorgen gemacht und wollte gerade loslaufen, um nachzusehen ob was geschehen ist.“ „Oh man, ich sag dir. Es war wirklich ein Fehler auf solch einer Eisfläche anzuhalten. Dachte allerdings du hättest mich gerufen. Na was soll’s. Ich bin wieder da. Wir müssen aber höllisch aufpassen. Es ist noch viel glatter als wir dachten. Auf manchen Stellen ist selbst das Gehen eine Herausforderung“, erkläre ich, als eines der wenigen Autos mit viel zu hoher Geschwindigkeit um die Kurve bricht. Um den Fahrer zu warnen winke ich wie ein Wilder. Er nimmt davon nicht die geringste Notiz und braust auf die Eisflächen zu, auf denen ich so große Schwierigkeiten hatte weiterzukommen. Wir sehen dem Fahrzeug nach und warten darauf, dass es jede Sekunde die Bodenhaftung verliert und in die Schlucht stürzt. Ehe wir uns Versehen ist es ohne ins Rutschen zu kommen über die Eisflächen drüber gerauscht. „Glück gehabt“, sage ich den Kopf schüttelnd. „Was machen wir wenn es auf der anderen Seite des Passes ebenfalls so glatt ist?“, frage ich Tanja, als wir noch immer dastehen, um Kraft für die nächsten Eisflächen zu sammeln, die sicherlich noch vor uns liegen. „Wie meinst du das?“ „Bei dieser Glätte können wir keinen Meter den Berg hinunterfahren. Hinauf geht es immer, aber runter… unmöglich. Da können wir das Bike nicht mal schieben. Sobald du eine Bremse ziehst, ist es weg“, sage ich nachdenklich. „Vielleicht haben wir Glück und die Sonne hat alles weggetaut. Könnte doch sein?“ „Wenn es ein Südhang ist, wäre es möglich“, gebe ich ihr recht. „Lass uns beten, dass es so ist“, meine ich, worauf wir unsere Rutschpartie fortsetzen.
Es geht vorbei an gefrorenen Wasserfällen und einer teils wunderschönen Winterlandschaft. Nie hätte ich gedacht, zu dieser Jahreszeit noch mal vom Winter eingeholt zu werden oder, dass er uns noch mal in Gefahr bringen könnte. Gerne würde ich anhalten, um das eine oder andere Fotos zu schießen, aber da die Schnee- und Eisflächen auf großen Strecken den gesamten Asphalt unter sich begraben haben, ist ab diesem Zeitpunkt nicht mehr im Traum daran zu denken. Mittlerweile haben wir uns bis auf 2.200 Meter hinaufgearbeitet. Mir kommt es so vor, als würden wir uns auf einem Minenfeld bewegen, denn nur ein kurzes Straucheln, eine falsche Bewegung und die Glätte würde einen von uns beiden auf den harten Untergrund werfen oder in den Abgrund befördern. Noch dazu kreuzen unaufhörlich Horrorgedanken mein Gehirn, wie es wohl weitergehen wird wenn wir die Passhöhe erreichen? „Ob es da drüben wirklich eisfrei sein kann? Und was machen wir, wenn nicht? Wie soll es dann weitergehen?“ Trotz der Anstrengung kriecht die zunehmende Kälte unter die nass geschwitzte Kleidung. Dann tauchen große Verkehrsschilder auf, die sich wie eine Brücke über die Gebirgsstraße spannen. Tatsächlich scheint hier, auf 2.300 Meter, die Sonne und von dem Schnee ist, zumindest auf diesem Abschnitt, nichts mehr zu sehen. „Sieht gut aus!“, rufe ich. Wir halten an, lachen befreit, klatschen unsere rechten Hände gegeneinander und sind froh die Passhöhe heil erreicht zu haben. „Super“, sagt Tanja ausgelassen. Wir schießen ein paar Siegesfotos. Dann ziehen wir unsere Regenjacken über und die dicken Handschuhe an, damit wir bei der Talfahrt nicht auskühlen. Und wer hätte es gedacht. Wir haben unglaubliches Glück. Tatsächlich gibt es auf dieser Seite des Berges kein Eis und Schnee auf der Straße. Einfach unglaublich. Auf einer nicht enden wollenden 37 km langen Talfahrt rollen wir dahin und fühlen uns wie Abenteurer die gerade einem wilden Löwen entkommen sind…
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