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Ägypten 1992

Vom Eselskarren zum Taxi

(Auszug aus dem Tagebuch)

Es ist schon später Nachmittag, als unser verstaubter Bus in der Oase Siwa mit kreischenden Bremsen zum Stehen kommt. Ein Bub stürzt mit gellenden Rufen auf uns zu. „Taxi, Mister! Taaaxiii!“ Der Junge wedelt ganz wichtig mit einem Plakat vor unseren Augen herum, auf dem die Adresse einer Unterkunft zu lesen ist. Lachend nehme ich sein Plakat und drehe es richtig herum, um den Namen des Hotels lesen zu können. Das Taxi erweist sich als kleiner hölzerner Karren, der von einem Eselchen gezogen wird. Entzückt laden wir unsere Rucksäcke auf das Vehikel und genießen die gemächliche Fahrt.

Siwa wirkt wie ein Gemälde aus Tausend und einer Nacht. Die untergehende Sonne scheint in warmem Rot auf malerische Lehmburgen, die wie Bienenwaben aussehen und sich bis zu sechs Stockwerke hoch auftürmen. Die Gassen sind so eng und dunkel, dass in den Häusern auch bei Tag Licht brennen muss. Beißender Geruch dringt uns vom Markt her in die Nasen. Das Aroma von Räucherzeug vermischt sich mit faulenden Tomaten und Heu, das die dösenden Esel genüsslich fressen. Feigen, Datteln und Weintrauben werden verkauft. Frisch geschlachtete Lämmer hängen zerlegt an rostigen Haken, und Tausende von Fliegen laben sich daran.

Als die Sonne ihr letztes warmes Licht in der nahen Wüste aushaucht, wölbt sich das Dach des Himmels über die Oase. Sterne funkeln wie Diamanten. Zwischen den Palmen flackern kleine Feuer, an denen sich die Bewohner wärmen. Sie schwatzen und lachen und ein irregeleiteter Gockelhahn kräht aus vollem Hals. Hier ist die Zeit vor tausend Jahren stehen geblieben.

Ganz im Gegensatz dazu Kairo. Blindlings rast dort unser verbeultes Taxi auf eine völlig verstopfte Kreuzung zu. Kurz vor dem Crash setzt der Fahrer zur Vollbremsung an. Ich falte meine schwitzenden Hände zum Gebet und hoffe, dass die Bremsen der schrottreifen Karre funktionieren. Eingekeilt stehen wir im stinkenden Blechknäuel. Dann, obwohl alle sichtbaren Ampeln die Farbe Rot zeigen, gerät das Knäuel wieder in Bewegung. Ein beängstigendes Hupkonzert begleitet die wabernde Blechhaufenszene, dass uns die Ohren schmerzen. Plötzlich werden wir von einem Fahrradfahrer links überholt. Unser Fahrer scheint ihn völlig zu ignorieren und rammt den fluchenden Mann mit seinem Außenspiegel. Zwischen meinen Händen durchblinzelnd sehe ich noch, wie der Arme recht unsanft zwischen zwei am Straßenrand stehenden Mülltonnen landet. „Inshallah,“ sagt unser Fahrer als wäre nichts gewesen und tritt aufs Gas…

Vom Jäger zum Gejagten

Unser Kamelführer Achmed, Tanja und ich sitzen dicht am knisternden Feuer, denn es ist eine kalte Nacht. Seit Tagen befinden wir uns mitten in der Wüste Sinai, um sie mit Kamelen zu durchqueren. Wir lauschen dem Nichts, der Stille der Wüste, den malenden Kiefern unserer Kamele und beobachten das Züngeln der Flammen. Der Mond taucht die umliegenden Berge, die ihre monströsen Schatten auf den kalten Sand werfen, in ein fahles Licht. Wir haben unser Lager in einer schmalen Schlucht aufgeschlagen, direkt am Fuße eines gewaltigen Bergmassivs. Bedrohlich wirkt die Schlucht, wenn der Wind um vorstehende, bizarre Felsen keucht. Ich sinne längst vergangenen Zeiten nach, in denen sich die Beduinen noch vor Löwen in Schutz nehmen mussten. Plötzlich durchfährt mich ein unangenehmes Gefühl. Ob es hier heute noch Löwen gibt? Der Gedanke lässt mich nicht mehr los und ich frage Achmed. „Ohhh,“ antwortet er nachdenklich, zieht eine Augenbraue hoch und beginnt seine Erzählung.

„Ja, es ist noch gar nicht so lange her, dass unsere Kamelherden von wilden Löwen angefallen wurden. Als mein Großvater noch jung war, hatte seine Familie immer wieder den Verlust eines Kamels zu beklagen. Damals waren Kamele noch viel mehr wert als heute. Für manche Familien war ein Kamel sogar der einzige wertvolle Besitz.

Ein Nachbar meines Großvaters war ein reicher Mann. Er besaß 15 Kamele. Er war angesehen, man fragte ihn um Rat und er bestimmte den Weg, wenn die gesamte Sippe zu einer anderen Oase aufbrach. Eines Nachts wurde er von entsetzlichem Gebrüll geweckt. Er dachte im ersten Augenblick, er habe geträumt, doch ein wiederholtes Brüllen riss ihm endgültig den Schleier der Schlaftrunkenheit vom Gesicht. Er begriff sofort, worum es ging und hastete mit seinem Gewehr in die Richtung, aus der er die schrecklichen Laute vernommen hatte. „Er ist wieder da,“ fuhr es ihm über die Lippen. „Die Bestie ist wieder da, um eines meiner Kamele zu fressen.“ Er rannte, stolperte, stand wieder auf und hetzte weiter. Erst letztes Jahr hatte ein Löwe eines seiner Tiere gerissen. Er hat auf ihn geschossen und ihn verwundet. Tagelang verfolgte er damals die Blutspur, doch der Löwe war schlauer als er. Dann hatte er die Spur verloren.

Jetzt war er wieder da, um sich an ihm zu rächen. Tief in seinem Inneren fühlte auch er die Angst, die seine Kamele durchdrang. Wieder stolperte er, doch diesmal war es kein Stein, über den er fiel. Eines seiner Kamele lag zuckend auf dem Wüstenboden. Zu seinem Entsetzen hörte er immer noch das Aufschreien seiner Tiere. Er hatte keine Zeit um den Verlust des Leitbullen zu beklagen, der blutüberströmt vor ihm lag. Er musste dem Löwen hinterher. Plötzlich wurde ihm das Ausmaß des Schlachtfeldes bewusst. Weitere vier Kamele lagen teilweise mit verrenkten Köpfen und aufgeschlitzten Bäuchen im Wüstensand. Tränen liefen ihm über die erhitzen Wangen, als er seine elend verendenden Tiere sah.

Seit Jahren waren die Kamele schon in seinem Besitzt. Er kannte sie gut, ja, er kannte sie wie seine eigenen Brüder. Bei dem schrecklichen Anblick gingen ihm alle Eigenschaften seiner treuen Gefährden durch den Kopf. Besonders tat ihm der Verlust seiner zwei Bullen leid. Er hatte es nicht immer leicht mit ihnen. Vor allem in der Paarungszeit waren sie oft widerspenstig und machten, was sie gerade wollten. Doch sie waren stark und ausdauernd. Sie konnten sogar 10 Tage ohne Wasser auskommen und es war kein Problem für sie, 14 Stunden ohne Pause mit je 400 Kilogramm Last zu laufen. Sie waren sein ganzer Stolz und nun zuckten sie elend im Wüstenstaub. Erneute laute Notschreie rissen ihn aus seinen Gedanken. Vorsichtig schlich er weiter durch das trockene Gesträuch. Oh Gott, da lagen noch zwei Kamele und eine Kamelkuh hinkte auf nur drei Beinen davon. Ihm schnürte es die Kehle zu, so entsetzlich war der Anblick. Wie gelähmt stand er da und es wurde ihm bewusst, dass er wieder ein armer Mann war. Plötzlich erbebte sein ganzer Körper von einem tiefen, markerschütternden Grollen. Ihm war klar, dass er nun an der Reihe war. Blitzschnell spulte sich sein Leben vor seinen Augen ab. Er war noch jung. Er wollte nicht sterben. Er spürte, wie sein Körper von einem unbändigen Willen durchströmt wurde. Wie ein Pfeil, der gerade den Bogen verlässt, schnellte er nach vorne. Noch in der Bewegung schoss er auf den heranfliegenden Schatten, der jaulend und mit einem tiefen Dröhnen neben ihm auf den Boden stürzte. Ein Gefühl der Erleichterung erfasste ihn und erst jetzt bemerkte er, wie ihm die Knie zitterten. Mit einem Gefühl, das nur Sieger kennen, lief er zurück zum Camp. Er kümmerte sich um nichts mehr, nicht um seine toten Kamele und nicht um den toten Löwen. Er rannte einfach zum Lager zurück, um zu berichten, was vorgefallen war.

Gleich im Morgengrauen machten er und einige Männer aus dem Lager sich auf, um den Ort des Grauens zu inspizieren. Jeder wollte die tote Bestie sehen, von der er so großspurig erzählt hatte. Doch als sie die Stelle erreichten, an der der riesige Löwe lag, war er verschwunden. Erschüttert lief er herum, um den tödlichen Jäger zu suchen. Er hörte Gelächter im Hintergrund. Es war nicht schwer zu bemerken, dass es ihm galt. Er spürte Hass in seinem Inneren. Alles hatte ihm der große Jäger genommen. Innerhalb nur weniger Stunden hatte er ihn arm gemacht und jetzt hatte er ihn auch noch bloßgestellt. Er war ein stolzer Mann und konnte ohne seine Würde nicht mehr im Lager leben.

Am nächsten Tag machte er sich auf die Jagd, auf die Jagd nach der Bestie, die ihn ruinierte. Es sollte eine Lebensaufgabe werden, denn er verfolgte seinen Todfeind wie ein Bluthund. Auf der jahrelangen Jagd durch den Sinai schoss er jeden Löwen, den er vor sein Gewehr bekam. Und so geschah es, das der Jäger zum Gejagten wurde, denn er ließ seinem Erzfeind keine Gelegenheit zur Rast.

In den Jahren seiner Jagd wurde er als Löwenjäger berühmt. Man sagt, dass mehr als 200 Trophäen sein Heim schmückten und dass seine Jagd der Grund dafür ist, warum es heute keine Löwen mehr im Sinai gibt,“ endet Ahmed mit leisen Worten seine Geschichte.

Nachdenklich sitze ich an dem fast erloschenen Feuer und fühle eine tiefe Trauer in mir. „Wie grausam die Natur sein kann“, flüstere ich, den Wind lauschend, der durch die nahe Schlucht streicht.


Ägypten 1992/2004

Auch heute noch ein Land in dem wie in Tausend-und-eine-Nacht Geschichten geflüstert werden. Ein Land der Felsgebirge, Oasen, Wüsten und schrillen Farben des Orients. Die atemberaubenden Pyramiden, Segeltörns auf dem Nil und der wispernde Wind der Wüste Sinai waren nur ein Teil der Erlebnisse von Tanja und Denis Katzer.

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