Besuch bei den Tuwa
N 51°21'785'' E 099°21'046''Tag: 124
Sonnenaufgang:
08:55
Sonnenuntergang:
17:23
Luftlinie:
50
Tageskilometer:
70
Gesamtkilometer:
1211
Bodenbeschaffenheit:
Eis, Schnee
Temperatur – Tag (Maximum):
minus 13°C
Temperatur – Tag (Minimum):
minus 18°C
Temperatur – Nacht:
minus 30°C
Breitengrad:
51°21’785“
Längengrad:
099°21’046“
Maximale Höhe:
1475 m über dem Meer
Neun Tage nach dem Gespräch mit Tsaya ist es soweit. Wir haben einen russischen Allradbus organisiert, natürlich nicht ohne den überhöhten Fahrpreis anständig zu verhandeln. Tsendmaa, die sich zwischenzeitlich mit Tanja angefreundet hat, lässt es sich nicht nehmen uns zu begleiten. Für sie ist dieser Ausflug eine willkommene Abwechslung zum eintönigen Alltag bei ihren alten Stiefeltern. Mit unseren Gastgeschenken und Mogi steigen wir in das Fahrzeug und sind, da wir das Auto für uns gemietet haben, über die anwesenden vier Fahrgäste überrascht. Es stellt sich heraus, dass die Männer Freunde des Fahrers sind, die sich anscheinend ebenfalls über die Abwechslung den Tuwa einen Besuch abzustatten, freuen. Lachend und ausgelassen empfangen sie uns. Sofort bieten sie uns einen Becher Wodka an der während der Fahrt immer wieder die Runde macht.
Bei leichtem Schneetreiben verlassen wir Tsagaan Nuur. Kaum liegt der Ort hinter uns ist keine Straße mehr zu erkennen. Der Fahrer lenkt sein Gefährt auf das Eis des Weißen Sees, um ihn zu überqueren. Dann folgen wir einer dünnen Spur, die sich stetig und leicht nach oben windet. „Da ein Fuchs!“, rufe ich. Alle blicken sofort aus den Fenstern, das flüchtende Tier mit den Augen verfolgend. Der Fahrer verlässt augenblicklich den schmalen Pfad und fährt dem Fuchs hinterher. Jedoch verlieren wir seine Fährte schon nach wenigen hundert Metern. Dann wendet der Mann seine klappernde Blechbeule auf Rädern und wir folgen wieder dem schmalen Streifen vor uns. Es dauert nicht lange und das Wetter wird zusehend schlechter. Schneeflocken setzen die Frontscheibe zu. Der Fahrer legt einen Hebel herum worauf sich zwei Wischblätter in Bewegung setzen und die Scheibe verschmieren. Der immer schlechter werdende Untergrund zwingt den Allradbus auf Schrittgeschwindigkeit. Die groben Räder arbeiten sich durch tiefe Löcher, Gräben und Risse. Es geht über Wurzeln und hartgefrorene Grasbüschel. Wir werden wie Fallobst auf unseren Sitzen hin- und hergeworfen. Wie Schildkröten ziehen wir die Köpfe ein, um nicht gegen die Decke zu knallen. Die Berge um uns herum verstecken sich hinter grauen Schneewolken. Erst vereinzelt und dann immer häufiger tauchen die ersten Bäume der Taiga auf. Nach einer guten Stunde legen wir eine kurze Rast ein. Weil nun nicht mehr die Gefahr besteht den Wodka zu verschütten kreist sofort wieder die Flasche. Die Männer werden immer ausgelassener.
Ich vertrete mir die Füße und laufe ein wenig herum. Meine Blicke folgen dem Weg als ich plötzlich eine Bewegung im Wald ausmache. Erst glaube ich meinen Augen nicht zu trauen aber beim konzentrierten Hinsehen entdecke ich ein schlaksiges, dahinstelzendes relativ kleines Tier auf dem jemand sitzt. „Dort ist ein Tuwa“, sage ich zu Tanja überrascht. Nur Sekunden später wird er auch von unseren angetrunkenen Begleitern ausgemacht. Sie rufen laut und winken den fremden Mann zu uns. Langsam kommt er herangeritten. Ein Hund läuft neben dem Rentier das er wie mein Pferd reitet. Der Mann sieht aus wie eine Erscheinung aus einer fremden Welt. Er hat ein Gewehr geschultert und ist offensichtlich auf der Jagd. Kaum hat er unseren Allrad erreicht steigt er von seinem eigenwilligen Reittier und wird in den Bus geschoben. Es vergehen nur Augenblicke und unsere mongolischen Begleiter reichen dem Jäger einen Becher mit Wodka. Ein anderer schwingt sich auf das Rentier und stellt sich mit seinem Freund vor meiner Kamera in Pose. Dann nehmen sie das alte Gewehr des Tuwa und schießen auf irgendetwas was in einem Baum sitzt. Als der Schütze den Abzug zieht macht es nur „klack“. Nach der dritten Ladehemmung knallt es und das kleine Kaliber verlässt den Lauf, um irgendwo in den Baumkronen zu verschwinden. „Ha, ha, ha“, lachen die Männer. Während der Schütze sich jetzt auch in den Kleinbus setzt, um weiter zu trinken, reitet der andere im Rentiertrab davon. Der Tuwa sitzt noch immer in unserem Bus und trinkt. Dann geht die heitere Fahrt weiter. Wir folgen jetzt den Rentierspuren die klar und deutliche Abdrücke in der dünnen Schneedecke hinterlassen.
Auf einmal öffnet sich mitten im dichten Wald eine Lichtung. Abgeschlagene Bäume zeugen von menschlicher Anwesenheit. „Da sind sie“, sage ich auf ein paar Tipis und Blockhütten deutend. Der Fahrer stoppt seinen Allradbus neben einem der zwei Blockhütten. Wir steigen aus und werden sofort von Tsaya begrüßt. „Kommt herein bittet sie uns in ihr Blockhaus. Wir bücken uns durch die niedrige hölzerne Tür und treten über die Schwelle in einen relativ dunklen Raum. Durch zwei kleine Fenster, mit durchsichtigen, dünnen Plastikfolien verhangen, dringt fahles Licht in den Raum. „Setzt euch doch“, sagt Tsaya auf ein niedriges Bett deutend über dessen Holzbretter nur eine dünne Matratze liegt. In der Mitte des Raumes brennt ein verhaltenes Feuer im gleichen Ofen der auch überall in den Jurte zu sehen ist. Ich lasse meinen Blick durch die Hütte gleiten. Es gibt nicht viel zu sehen. Die Einrichtung ist sehr spartanisch. Als Schemel dienen abgesägte Holzstümpfe. Die Küche ist ein mit einfachen Brettern und Stämmen zusammengenageltes Gestell. Dort bewahrt Tsaya Mehl, Salz, Geschirr und Tassen auf. An der gegenüberliegenden Seite des Eingangs hängt der obligatorische Wandteppich den viele Mongolen auch in ihren Jurten oder Wohnungen haben. Meist zeigt er Dschingis Khans Porträt, einen Wolf oder Bären.
Tsaya bietet allen Männern Tee und selbstgebackenes Brot an. Jeder von ihnen greift selbstsicher zu. Tanja und ich blicken uns an. Uns ist klar, dass hier absolut alles was Menschen konsumieren auf schwierigem und teuerem Weg hertransportiert werden muss. Trotzdem erfordert es die Gastfreundschaft der Mongolei jedem Gast Tee und Brot oder Gebäck anzubieten. Die Männer unterhalten sich angeregt und tun so als wären sie hier zuhause. Da sie mit uns gekommen sind ist uns ihr Auftritt ein wenig peinlich.
„Wo sind denn eure Rentiere?“, fragt Tanja, weil wir bis auf das eine gesattelte Reittier des Jägers keines gesehen haben. Sie sind beim Grasen in den Wäldern. Aber die Männer bringen sie jeden Abend in unser Camp“, erklärt sie. „Warum bringt ihr sie ins Camp? Das ist doch viel Arbeit“, frage ich. „Weil sie ansonsten von Wölfen angefallen und gefressen werden. Wölfe sind ein echtes Problem für uns. Wir verlieren jedes Jahr eine Anzahl von Tieren. Auch dieses Jahr wurden schon ein paar gerissen. Hier im Camp besitzen wir einen besseren Überblick. Außerdem schlagen die Hunde an wenn Wölfe ins Lager kommen“, erklärt sie. „Bleiben denn die Rentiere im Camp? Sie laufen doch bestimmt wieder weg wenn man sie nicht anbindet?“, interessiert es mich. „Genau, wir binden sie an.“ „Ihr bindet jedes einzelne Rentier an?“ „Ja, sie werden in Gruppen an Bäumen festgebunden. So können sie nicht weglaufen. Wir treiben sie abends auf unsere Lichtung und locken sie mit Salz.“ „Wie ihr lockt sie mit Salz?“ „Rentiere lieben Salz. Wir rascheln mit den Tüten in denen das Salz ist und lassen sie daran schlecken. So haben wir Kontrolle über unsere Tiere. Da wir mit ihnen von Geburt an zusammen sind ist jedes von ihnen recht zahm“, erklärt Tsaya. „Lasst uns rausgehen. Sie werden jeden Augenblick kommen“, fordert sie uns auf ihre Hütte zu verlassen.
Ein wenig aufgeregt warten wir auf der Lichtung als die ersten Tiere durch die Wälder trippeln. Es ist ein interessanter und zugleich ungewohnter Anblick als die weißen Tiere durch den nadellosen Lärchenwald direkt auf die Lichtung laufen. „Können wir irgendetwas tun?“, frage ich. „Ja, hilf der Frau dort ihre Tiere einzufangen“, sagt Tsaya. „Okay“, antworte ich nicht wissend wie ich das tun soll. Ich beobachte die Tuwafrau wie sie jedes einzelne Tier an einem Strick packt welches sie um den Hals gebunden haben und an einem Baum festknotet. „Gut, das kann ich auch“, denke ich und versuche mein erstes Rentier zu fangen. Klar läuft es aufgeregt davon. Beim zweiten Versuch bin ich etwas schlauer. Ich nähere mich dem Bock als würde ich niemals daran denken ihn fangen zu wollen. Als er sein Geweih senkt, um ein paar Flechten zu fressen, greife ich nach dem Strick. Und siehe da jetzt habe ich mein erstes Rentier gefangen. Stolz bringe ich es der Frau die sich lachend bedank. Tanja ist indes mit der gleichen Aufgabe beschäftigt und ebenfalls erfolgreich. An ihrem Lächeln erkenne ich wie viel Freude sie dabei hat.
Als alle Rentiere an ihren Platz gebunden sind suchen die Anwesenden die zweite Blockhütte auf. Ein paar Frauen und Tuwamänner füllen den Raum. Unsere angetrunkenen Mongolen kommen auch noch hinzu. Es wird gesprochen und Wodka ausgeschenkt. „Wann sollen wir über unser Anliegen sprechen?“, frage ich Tsaya. „Jetzt ist ein guter Zeitpunkt“, antwortet sie. Jedoch habe ich nicht die geringste Chance gehört zu werden. Einer unserer mitgebrachten Gäste ist mittlerweile derart betrunken, dass er aufgestanden ist und laut dröhnend und grölend eine nicht enden wollende Rede schwingt. „Er ist Schamane“, sagt Tsaya. „Offensichtlich ein äußerst betrunkener noch dazu“, antworte ich grinsend. „Was glaubst du? Wann soll ich denn zu deinen Leuten sprechen?“ „Jetzt. Ansonsten kannst du bis morgen früh warten. Er wird nicht aufhören zu sprechen“, meint Tsaya. Vorsichtig beginne ich etwas zu sagen, worauf sich drei der anwesenden Frauen mir zuwenden und tatsächlich zuhören. Anscheinend haben sie hier öfter besoffene Schamanen die lallende Vorträge halten.
„Schon 1996 waren wir in eurer schönen Mongolei. Damals haben wir von euch gehört und seitdem hegen wir einen Traum mit euch einen Winter zu verbringen. Es hat 15 Jahre gedauert, um den Traum real werden zu lassen. Jetzt sind wir nach 15 Jahren bei euch, um zu fragen ob wir für eine gewisse Zeit unser Leben mit euch teilen dürfen? Wir fallen euch nicht zur Last denn wir werden alles was nötig ist mitbringen. Wir wollen auch nicht stören sondern einfach nur hier sein. Sollte euch unsere Anwesenheit nach einiger Zeit nicht Recht sein gehen wir natürlich wieder. Wir möchten euch unsere Gegenwart nicht aufzwingen“, erzähle ich unaufhörlich unterbrochen von dem lauten Schamanen der seine Rede noch lauter in den Raum hineindonnert weswegen jegliches andere Geräusch dagegen verstummt.
Die Frauen nicken freundlich und es dauert nicht lange bis alle Anwesenden mit unserem baldigen Besuch einverstanden sind. „Du hast bei mir auf jeden Fall etwas gut. Jemand der so gut Rentiere fängt wie du und hilft sie anzubinden ist bei uns immer willkommen“, sagt sie, worauf alle herzhaft lachen. Wir lassen Tsaya wie besprochen drei Flaschen Wodka, Tabak, Tee und Plätzchen da, um unsere Geschenke unter den Tuwa zu verteilen. „Weil unsere Männer schon einiges an Wodka intus haben gebe ich ihnen eure Geschenke erst wenn ihr gegangen seid. Das ist besser, ansonsten betrinken sie sich zu sehr“, sagt sie.
Es ist bereits dunkel als wir uns von den Tuwa und Tsaya verabschieden. Die Scheinwerfer des Allradbusses fressen sich durch die Finsternis und treffen auf Spuren von Wölfen. Eine Tuwafrau und Mann nutzen die Gelegenheit, um mit uns nach Tsagaan Nuur zu fahren. Der Wodka kreist weiter und mongolischer Gesang ertönt. Die 75 Jahre alte Tuwafrau trinkt und singt kräftig mit. Sie lacht ausgelassen und trotz ihres Alters scheint sie beim Trinken den Männern um nichts nachzustehen.
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