Kontrollposten
N 51°30'08.4'' E 046°07'08.2''An diesem neuen Tag liegen bis zur Stadt Engels wieder 100 Kilometer vor uns. Die Fahrbahn an der Wolga ist hier von Bäumen und Sträuchern gesäumt die dem jetzt aus Norden kommenden Wind teilweise die Kraft nehmen. Der Wolgograder Stausee drückt sich zu unserer Linken immer wieder bis an die Straße. An manchen Stellen ist er über zehn Kilometer breit. Am anderen Ufer erkennen wir die Berge und sind jetzt doch froh den 150 Kilometer langen Umweg in Kauf genommen zu haben. Um den Anblick der Hauptwasserstraße Russlands ein wenig zu genießen halten wir für ein paar Minuten an. “Ich habe gelesen, dass die Wolga durchschnittlich acht Millionen Liter Wasser pro Sekunde transportiert”, unterbreche ich unser Schweigen. “Ist eine unvorstellbare Menge”, entgegnet Tanja bald ehrfürchtig. “Stimmt. Ist ein Megafluss der durch verschiedene Kanäle mit einigen Meeren verbunden ist.” “Ja? Mit welchen denn?” “Soviel ich weiß mit der Ostsee, dem Asowschen Meer, dem Schwarzen Meer, mit dem Weißen Meer und sogar mit Moskau”, antworte ich und denke daran das wir mit diesem Fluss nach der Donau schon wieder einer großen Wasserstraße Europas folgen.
Die Sonne mit ihrem kalten Gelb besitzt nur noch wenig Wärme und taucht die herbstliche Landschaft in ein eigenwilliges aber angenehmes Licht. Bevor wir auskühlen schwingen wir uns wieder in die Sättel und folgen einer Straße die uns durch eine märchenhaft schöne Landschaft führt. Hübsche Dörfer mit ihren einfachen Häusern tauchen auf. Die Fensterläden und das Gartentor mit blauer oder grüner Farbe bestrichen. Einige der alten Hütten ducken sich im matten verwitterten Grau dazwischen. Manche Einfriedungen sind noch von den letzten Winterstürmen umgedrückt. Manche aber sind neu errichtet. Einige Dächer sind vom Alter gezeichnet, beugen sich wie ein krummes Rückrad. Andere Dächer haben aufgegeben und sind unter der Last der Verwitterung zusammengebrochen. Menschen sitzen auf einer Bank vor ihrer Hütte und sehen uns verwundert nach. Manche heben die Hand zum Gruß. Staunende Gesichtsausdrücke verziehen sich zu einem Lachen. Dann bettet sich ein kleiner Seitenarm der Wolga zwischen zwei Hügel. Auf dem Teich schaukelt ein Ruderboot. Der alte Mann darin wirft sein Netz aus, in der Hoffnung etwas für das Abendessen zu fangen. Schilfgras biegt sich im Wind und raschelt. Der Duft von Kräuterwiesen weht herüber. Ist intensiv. Schwingt aus dem Kraut in die Luft und wird vom Wind fort getragen. Das Gras der Erde ist vom Sommer gezeichnet. Ist hellgelb, grau, matt. Nur noch wenig Grün darin. Wir radeln durch eine Senke. Eine der vielen Senken durch die sich ein Flüsschen hindurchschlängeln nur um sich dann in der mächtigen Wolga zu verlieren.
15 % Steigung steht auf einem verrosteten Verkehrsschild. Wir geben alles um uns aus der Senke in die Höhe zu arbeiten. Oben angekommen überrascht uns wieder der hässliche Anblick eines Kontrollpostens. Ein Haus aus Beton mit Stacheldraht außen herum. Ein Mann in grüner Uniform, mit Maschinenpistole bewaffnet, patrouilliert davor. Ein Polizist steht breitbeinig am Straßenrand und deutet mit seinem Stock auf einen Autofahrer. Nur gut nicht zum Beutebild der russischen Polizei zu gehören, denke ich mir. Doch plötzlich wird der Polizist von einem sichtbaren Gedankenblitz getroffen und der Stock deutet unmissverständlich in meine Richtung. Als ich nicht verstehen will und im Begriff bin weiterzufahren wird die Bewegung ruckartig und bestimmend. Ich zeige ungläubig mit dem Finger auf mich worauf der Mann hinter seinem Stock grimmig nickt. “Guten Tag. Wie geht’s”, begrüße ich den unfreundlich dreinblickenden Mann. “Papiere!” ist seine Antwort. Mir schwant nichts Gutes. “Klar habe ich Papiere”, entgegne ich freundlich als sich Tanja aus der Senke ins Sichtfeld des Kontrolleurs erhebt. Wieder deutet der Stock in ihre Richtung. “Der Polizist nimmt unsere Pässe und fordert mich auf mit in das Kontrollhaus zu kommen. “Geht nicht. Wir können unsere Räder mit dem vielen Gepäck nicht abstellen”, antworten wir wissend alles zu tun um nicht das Gebäude betreten zu müssen. Er marschiert davon und reicht die Dokumente durch ein Fenster. “Warten sie hier. Wir müssen ihre Pässe im Computer überprüfen”, sagt er noch immer ernst. “Wir kommen aus Deutschland. Mit dem Fahrrad. Ist ein weiter Weg. Hier in Russland gefällt es uns sehr gut. Ihr seid nette Menschen”, plaudert Tanja und der Mann beginnt ein wenig zu lächeln. Plötzlich spricht er ein paar Worte Deutsch. “Sie sprechen ja unsere Sprache?”, frage ich. “Nur noch ganz wenig. Habe ich auf der Hochschule gelernt”, verstehen wir.
Dann klopft es laut gegen die Fensterscheibe des Kontrollhauses. “Kommen sie jetzt mit”, befiehlt mir das jetzt wieder erkaltete Gesicht. Ohne Zweifel wollen die Polizisten uns hier abkochen. Ohne Zweifel wollen sie die Gelegenheit nutzen um ihr Gehalt aufzubessern. Unangenehme Erinnerungen von Transnistrien erklimmen meine Gehirnwindungen. Jetzt keine Chance mehr zu haben mich weiterhin zu weigern lehne ich meinen Bock an das Haus. Der Soldat mit der Maschinenpistole steht provokativ neben mir. Will mich mit seinem Schnellfeuergewehr wahrscheinlich einschüchtern. Muss zugeben, dass er damit auch Erfolg hat. Zeige es ihm aber nicht. Mit mulmigen Gefühlen betrete ich die unfreundliche dunkle Bude. Ein feister Polizist mit einer großen unschönen Narbe quer übers Gesicht sitzt hinter seinem Schreibtisch. “Setzen!”, befiehlt süffisant. Ich verweigere seinen Befehl und bleibe stehen. Möchte nicht in gleicher Augenhöhe mit ihm sein. Nun ist er gezwungen aus seiner sitzenden Position zu mir aufzublicken. “Setzen!”, befiehlt die Stimme wieder. Ich ignoriere sie einfach und frage freundlich was denn los sei? “Ihre Registrierung ist ausgelaufen”, meint das Narbengesicht auf das Einreisepapier tippend. “Da ist doch eine Registrierung drauf.” “Ist alt.” “Moment, ich habe die anderen Registrierungen im Anhänger”, antworte ich und hole sie aus der Laptoptasche. Jetzt lege ich ihm ein ganzes Bündel voller Gastinizarechnungen auf den Tisch. “Das sind nur Rechnungen von Gastinizas. Keine Registrierungen”, höre ich die scharfe Stimme und glaube an Boden zu verlieren. Der andere Polizist kommt rein. Der Soldat mit der Schnellfeuerwaffe lehnt an der Tür. “Er spricht kaum Russisch”, erklärt das Narbengesicht seinem Kollegen. Genau, denke ich mir. Dabei bleibt es auch. Ich mache es euch nicht leicht. “Das sind nur Rechnungen von Gastinizas”, wiederholt er mit dem Zeigefinger auf die Papiere tippend. Kann es wirklich sein das diese Rechnungen nichts wert sind? Müssen wir uns tatsächlich in jedem Ort von der Behörde registrieren lassen? Das würde wegen dem großen Zeitaufwand eine Radreise durch Russland unmöglich machen. Im letzten Registrierungsbüro wollte man uns wegen dem angeblich falschen Visum über den Tisch ziehen. Der Beamte hatte Tanja aber auch erklärt, dass wir uns nur bei den Behörden melden müssen wenn wir länger als drei Tage an einem Ort bleiben. Ansonsten müssten die Rechnungen der Unterkünfte gültig sein. Wie auch immer. Das Narbengesicht möchte Geld von mir. Eindeutig. “Sehen sie. Hier auf dem Einreisepapier ist nicht viel Platz. Deshalb liegen extra Zettel mit Stempel im Pass. Auch sind viele Hotels in Russland berechtigt einen Registrierungsstempel auszustellen”, radebreche ich mehr mit Zeichensprache, Deuten und Gestik als mit Worten. Der Feiste wirft wieder einen Blick auf die vielen Belege. Bevor er etwas sagen kann ziehe ich die eine oder andere Rechnung der größeren Hotels aus Wolgograd, Wolgodonsk und Asow heraus. “Eindeutige Registrierungen”, sage ich bestimmt. Die Narbe wühlt mit seinen dicken Fingern durch den Papierhaufen. “Wissen sie? Ich bin Schriftsteller. Schreibe ein Buch über die Russische- Deutsche Freundschaft”, erzähle ich einfach so, um eventuell seine Sympathie zu gewinnen. Keine sichtbare Reaktion.
“Über welche Grenze sind sie eingereist? Wo ist das Visum?”, wechselt er jetzt plötzlich das Thema. “Was haben sie da in ihrem Rucksack?”, will er nun wissen. “Wasser. Wenn man Rad fährt hat man viel Durst. Da ist so ein Trinkrucksack sehr praktisch”, erkläre und lächle ich. “Sie sollten Wodka reinfüllen.” “Wodka? Na der würde mir aber schnell die Luft aus den Oberschenkeln lassen”, scherze ich. Allgemeines Gelächter ist die Antwort. “Wodka ist gut. Für Radfahrer gibt es in Russland wegen Wodka auch keine Strafe”, lacht nun das Narbengesicht erneut und klopft mir kräftig auf die Schulter. Dann reicht er mir die Pässe. Von der Registrierung wird auf einmal nicht mehr gesprochen. Die Polizisten und der Soldat begleiten mich nach draußen. “Alles gut gelaufen”, gebe ich Tanja mit einem zuversichtlichen Augenzwinkern zu verstehen. “Hast du eine Pistole dabei? Die kannst du doch bestimmt gebrauchen? Ist nicht sicher da draußen. So eine wie ich besitze. Da schau”, fragt das Narbengesicht auf seinen Gürtel deuten mir offensichtlich eine plumpe Falle stellen wollend. “Eine Pistole? Hier in Russland? Na dann käme ich gleich in ein Gefangenenlager nach Sibirien”, antworte ich. Allgemeines und heiteres Gelächter ist die Antwort. Dann schüttle ich dem Gewehrmann die Hand. Er sieht mich überrascht an. Hat mit dieser Gebärde offensichtlich nicht gerechnet. Auch den anderen Beiden reiche ich die Hand zum Gruß. Als ich Augenblicke danach meinen Anhänger wieder richtig lade flüstert mir Tanja zu. “Komm, mach schnell. Nichts wie weg von hier.” Sofort schließe ich den Deckel der Zargesbox, schwinge mein Bein über den Rahmen und trete in die Pedale. “Warum hattest du es plötzlich so eilig?”, möchte ich wissen als der Kontrollposten hinter einer Biegung verschwunden ist. “Die Polizisten sprachen von Euro. Wer weiß was ihnen daraufhin noch eingefallen wäre?” “Hm, gut das es so gelaufen ist. Trotzdem bin ich mit den Registrierungen etwas verwirrt. Ich hoffe wir machen damit alles richtig. Nicht das wir am Zoll, wenn wir das Land verlassen möchten, Ärger bekommen”, schließe ich und lasse mein Rad weiter gen Norden holpern.
Kaum fünf Minuten später stoppt ein großer Bus vor uns. Wir halten neben ihm. Der Fahrer steigt aus. “Wartet bitte einen Augenblick?”, sagt er, öffnet eines der Gepäckfächer und reicht uns eine medizinballgroße Wassermelone. Wieder müssen wir ablehnen. “Brot? Möchtet ihr ein frisches Brot?”, fragt er erneut offensichtlich gewillt uns unbedingt etwas schenken zu wollen. “Gerne”, antwortet Tanja freundlich. Der Fahrer klettert in seinen Bus und holt hinter seinem Sitz eine Plastiktüte hervor. “Da seht, ist noch ganz frisch”, meint er und drückt den Leib etwas in seiner Hand. Wir bedanken uns herzlich. Die Fahrgäste hintern den Fenstern winken uns freundlich zu. Dann springt der Mann wieder in den Autobus und braust davon. “Was für ein Land? Erst möchte man uns etwas nehmen und wenige Augenblicke danach werden wir wieder beschenkt”, stellt Tanja fest. “Ja, als würde eine höhere Macht sofort wieder den Ausgleich schaffen wollen. Wirklich seltsam. Nur gut das die Negativerfahrungen bisher verschwindend gering sind. Zweifellos gehören die Russen zu den freundlichsten Menschen denen wir bisher auf unseren Reisen begegnet sind”, freue ich mich über die bald unzähligen positiven Erlebnisse in diesem scheinbar endlosen Land.
Es dämmert bereits als wir den Randbereich der Stadt Engels erreichen. “Dort drüben ist Saratow!”, rufe ich Tanja zu und deute auf die andere Seite der Wolga. Dann lassen wir unsere Roadtrains eine steile Brückenauffahrt hinuntersausen. Im letzten Moment weiche ich einem großen, tiefen Loch in der Straße aus. So groß, das man mit dem Vorderrad darin glatt verschwinden würde. Ich habe nicht einmal mehr die Zeit Tanja vor der Gefahr zu warnen als auch sie unbeschadet daran vorbeischießt. Dann setzt die Dunkelheit ein. Ohne lang suchen zu müssen finden wir wenig später im Zentrum der Stadt Engels eine, wie soll es anders sein, völlig überheizte und sich kurz vor dem Zusammenbruch befindliche Bleibe. Der Stadt die ihren Namen dem deutschen Unternehmer Friedrich Engels (1820-1895) zu verdanken hat. Der revolutionäre Politökonom Friedrich Engels gründete mit seinem Freund Karl Marx den wissenschaftlichen Sozialismus (Kommunismus). Wer hätte gedacht, dass sich daraufhin einmal die Welt in zwei Lager teilen würde?