1000 Kilometer gegen den Ostwind
N 47°31'36.7'' E 042°08'36.8''Nach dem gestrigen üppigen Mahl ist mein Anhänger bedeutend leichter geworden. “Ruht alles in unseren Bäuchen”, freue ich mich lachend. Kaum sind mir diese Worte über die Lippen gegangen kommt Sascha. “Ich wollte mich nur noch von euch verabschieden. Muss aufs Feld zum arbeiten. Aber bevor ihr geht nehmt doch bitte ein paar Paprika mit”, meint er freundlich lächelnd, greift in einen nahen Sack und lädt zwei Hände voll in meine Zargesbox die gerade offen dasteht. “Ach, vielen Dank”, freue ich mich und hoffe das er nicht noch mal in den Sack greift. Gedacht getan. Schon wieder graben sich seine Hände wie ein Schaufelradbagger in den Paprikasack und entlädt sie in meinen Anhänger. “Oh, danke das reicht bestimmt für lange Zeit, versuche ich ihn zu bremsen. “Nein du musst noch ein paar mitnehmen. Die schmecken hervorragend im Salat. Du hast doch noch Platz in deiner Kiste”, sagt er und belädt sie bis sich keine Lücke mehr finden lässt. Dann verabschiedet er sich von uns und wünscht uns eine gute Reise. “Halt, warte noch einen Moment. Hast du Töchter?”, frage ich. “Ja”, antwortet er verwundert. “Das ist für eine deiner Töchter oder deine Frau”, sage ich und überreiche ihm einen Ring den mir Tanja vor wenigen Minuten gegeben hat. Sascha reißt die Augen auf und steckt das Schmuckstück in seine Jackentasche. Als er mir den Rücken zuwendet und übers Feld zu seinen Kollegen eilt holt er ihn wieder hervor, um ihn erneut zu betrachten. Dann dreht er sich noch mal um und winkt uns zu. “Er hat sich sehr gefreut”, meine ich jetzt Tanja zugewandt die für besondere Fälle ein paar Kleinigkeiten als Geschenke im Gepäck hat.
Seit 1000 Kilometern fahren wir jeden Tag gegen den Wind. Seit 1000 Kilometer radeln wir auch immer in Richtung Osten oder Nordosten. Die Windsituation nagt an unserem Gemüt. Wir sind nicht selten dem Verzweifeln nahe. Beißen uns durch. Hoffen auf eine Verbesserung der Wettersituation. Erst war es die enorme Hitze, dann die ewigen Hügel von Südrumänien bis durch gesamt Moldawien und jetzt wo alles schön flach ist werden die vorhergehenden Herausforderungen durch den ewigen und teilweise extremen Ostwinden ersetzt. Jeder Tag wird durch dieses Naturelement bestimmt. Verwunderlich für uns, denn auch der Wind kann doch nicht immer blasen? Irgendwann muss doch auch ihm die Luft ausgehen? Unsere Körper sind müde. Unsere Psyche ebenfalls. Kein Wunder, hängt doch alles zusammen. Wichtig für uns sind Pausen denn ohne Pausen erreichen wir nichts anderes als ein Ausbrennen unseres Systems. Das müssen wir unter allen Umständen vermeiden. Immer wieder und immer wieder muss ich mir sagen, dass es nicht auf die Menge der Kilometer ankommt sondern auf die Strecke die wir in uns selbst zurücklegen. Auf die Strecke die uns als Mensch verstehen, reifen und begreifen lässt. Ist der Wind vielleicht ein Werkzeug, um uns dorthin zu führen? Dorthin wo es das tiefe Verstehen gibt? Ist der Wind kein böser Wind, sondern letztendlich unser Freund? Warum eigentlich nicht? Ist er doch ein wichtiges Naturelement. Ist er doch da ob wir es wollen oder nicht. Wir sind gezwungen uns an ihn anzupassen. Wir sind gezwungen ihn zu akzeptieren oder eben nicht. Gedankengänge die während des Radfahrens ständig in meinem Kopf kreisen. Als Autofahrer ist der Wind in dieser augenblicklichen Stärke relativ unwichtig. Der Fahrer bemerkt eventuell die eine oder andere Seitenböe wird aber nicht aus dem Sitz geblasen. Die Musik dudelt im Radio und dahin geht es übers Land. Egal ob es bläst, regnet oder schneit. Wir als Radfahrer sind allen Elementen ausgesetzt. Im Augenblick dem Wind. Einer horizontalen Luftbewegung die mich zum nachdenken anregt weil ich sie so lästig finde. Also hat der Wind zweifelsohne auch für uns etwas Gutes. Er lässt mich denken. Er zwingt mich, mich mit ihm auseinander zusetzen. Würde ich meinen ständigen Ärger über den Wind in mich hineinfressen würde ich daran erkranken. Das ist natürlich Blödsinn. Wer will schon an einem Wind erkranken? Ich nicht. Also denke ich über ihn nach. Versuche ihn zu akzeptieren. Wenn es gar nicht anders geht lasse ich meine Wut heraus und brülle ihn mal an. Ja. Das ist gut. “Du Scheißwind! Scheißwind! Sau dummer Wind! Hör endlich auf! Du! Duuuuu Mistkerl!” Jetzt geht es mir besser aber der Wind lässt sich nicht beeinflussen. Weht und weht stoisch weiter. So ein dummer Wind. Er lässt sich von mir nicht ins Boxhorn jagen. Nein, das lässt er nicht. Zeigt es mir schon seit Wochen. Der Wind und ich. Wir und der Wind. Eine Einheit. Eine Herausforderung die durch horizontale Unterschiede des atmosphärischen Drucks entstehen. Und der atmosphärische Druck beruht auf Temperaturunterschiede, sinniere ich. Hm, Temperaturunterschiede zwischen Sibirien und hier? Das ist durchaus möglich. Das bedeutet vielleicht, dass ich mit dem Wind eher zufrieden sein sollte als mich ständig über ihn zu beklagen. Denn was ist wenn sich diese Temperaturunterschiede ausgeglichen haben? Dann wird es bestimmt saukalt. Also ehrlich gesagt habe ich lieber den Wind als Saukälte. Das wäre dann das nächste Ding auf dieser Reise. Kälte würde auch Schnee bedeuten. Schnee ist ja in Ordnung aber bitte erst dann wenn wir unser Etappenziel erreicht haben.
Nach fünf Stunden, 50 Kilometern hartnäckigem Strampeln und einem enormen Kraftaufwand, erreichen wir völlig kaputt die Stadt Wolgodonsk. Ohne große Schwierigkeiten finden wir eine Gastiniza mit nettem Personal. Hier entscheiden wir uns wieder zu Kräften zu kommen bevor wir unsere Radreise in Richtung Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, fortsetzen.