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Russland/Kanevskaya

Extremer Ostwind

N 46°05'04.4'' E 038°58'07.6

Bei absolut blauem Himmel verlassen wir die Stadt. Der Verlauf der Straße lenkt uns auf die Umgehung um Timashevsk. Dann geht es immer gerade aus. Der Wind ist schon seit langem lästig. Heute jedoch ist er extrem. Er bläst uns direkt in die rechte Seite. Wir haben Mühe die Räder gerade zu halten und müssen uns sehr darauf konzentrieren nicht von einer Böe in einen der vorbeifahrenden Lastwägen oder Autos gedrückt zu werden. Da der Wind direkt aus Osten kommt sehen wir ihn als einen Gruß aus Sibirien. Wahrscheinlich sind das die Vorboten der kalten Winter-Ostwinde die sich über den Ural schleichen. Bis zur Stadt Rostov-Na-Donu müssen wir uns die nächsten 200 Kilometer immer in Richtung Norden halten. Von dort geht es aber eher nach Nordosten.

Gegen Mittag steigert sich der Seitenwind derart, dass es für uns an die Grenzen des menschlichen Machbaren geht. In manchen Momenten verfängt er sich im Rahmen unseres Rades und gibt einen klagenden Laut von sich. Genau dann müssen wir uns mit dem gesamten Körpergewicht dagegen lehnen, um nicht einfach auf den Teer geworfen zu werden. Schlagartig lässt Sekunden später die Böe etwas nach, weshalb wir daraufhin fast in den Straßengraben schießen. Wir werden gebeutelt wie in einer Waschmaschine. Hin und her, hin und her. Plötzlich verfängt sich eine der Windstöße in den Vorderreifen. Die wimmernden Oberschenkelmuskeln schaffen mit aller Kraft unseren Bock nur noch sechs bis acht Stundenkilometer voranzutreiben. Es ist zum Verzweifeln und eine echte Prüfung für unseren Durchhaltewillen und Moral. Unsere Knie und Rücken beginnen zu schmerzen. Bis zu unserem nächsten größeren Etappenziel, der Stadt Wolgograd, sind es von hier noch 800 Kilometer und unserem eventuellen Etappenziel, der Stadt Saratow, noch mindesten 1.200 Kilometer. Wenn die Windsituation so bleibt oder sich noch verstärkt liegen diese Ziele in bald unerreichbarer Entfernung. Noch dazu hat man uns vor starkem Regen gewarnt der laut Wetterbericht in vier Tagen einsetzen soll. Wir werden sehen wie die Wettersituation sich in den kommenden Tagen entwickelt. Uns bleibt nichts anderes übrig als sich damit abzufinden, weiterzustrampeln und eventuell nach Alternativen zu suchen.

Eigentlich haben wir uns für diesen schönen, sonnigen Tag mindestens 80 Kilometer vorgenommen aber diese unvorhergesehene Herausforderung zwingt uns zum umdenken. “Auf der Karte sehe ich den Ort Kanesvskaya. Vielleicht finden wir dort eine Gastiniza?” brülle ich in den Wind damit Tanja mich versteht. “Wäre gut”; höre ich.

Um 15:10 Uhr, nach 58 Kilometern, erreichen wir das Ortsschild von Kanesvskaya. Im Windschatten der Gebäude und Bäume müssen wir noch weitere fünf Kilometer in das Zentrum radeln da sich die Ortschaften in dieser Gegend oft ewig in die Länge ziehen. Drei Jungs auf ihren Skateboards zeigen uns den Weg zu einer völlig herunter gekommenen Gastiniza. “Was kostet ein Zimmer?”, möchte ich wissen. “Woher kommen sie?”, ist die Antwort. Als ich frage ob der Preis etwas mit unserer Herkunft zu tun hat bekomme ich keine Antwort. Dann darf ich mir das 400,- Rubel Zimmer ansehen. Mein Gott. Was es alles gibt, denke ich mir bei dem Anblick der halbzerfallenen Räume. Schimmel, durchgelegene Betten, zugige Fenster, kaputte ständig laufende Toiletten und Modergeruch. Das ist selbst für mich zuviel. “Haben sie kein besseres Zimmer?”, möchte ich wissen. “Njet”, antwortet die freundliche Dame und greift zum Telefonhörer, um eine andere Gastiniza anzurufen. Dann legt sie wieder auf und erklärt mir ganz selbstlos den Weg zu einer hoffentlich menschenwürdigen Bleibe. Auch wenn das Wasser aus der Leitung dort nach faulen Eiern riecht sind wir erleichtert ein schönes Zimmer vorzufinden. Die ebenfalls nette Dame am Empfang möchte sofort unsere Pässe und fragt nach unserer Registrierung. Oh weh, bitte keine Registrierung, denke ich denn unsere Kräfte für die nächsten 30 Kilometer bis zum nächsten Ort sind kaum noch vorhanden. “Haben sie ein Visum?”, fragt die Frau noch mal. “Natürlich haben wir eines”, antworte ich. Erleichtert, dass wir nun offensichtlich nicht zu den Behörden für eine Meldung müssen, geben wir die Pässe ab. Alles wird feinsäuberlich kopiert. Der Pass, das Visum, der Einreisezettel und der Stempel der letzten Registrierung. Man was haben die hier nur mit ihrer lästigen Registrierung? Dann bekommen wir eine Quittung mit allen unseren Daten. Überwachung pur. “Fühlt sich irgendwie nicht gut an. Ich hoffe wir können uns daran gewöhnen”, sage ich zu Tanja. “Ich hoffe. Aber das Wichtigste ist das wir heute nicht mehr da raus müssen, um gegen den Wind anzutreten. Vielleicht sind die Sturmböen morgen ja nicht mehr so stark.” “Ja, vielleicht”, antworte ich und lasse mich, dankbar für den sicheren Hafen, in den bequemen und zur Abwechslung mal nicht heruntergekommenen Stuhl sinken.

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