Keine Perspektiven
N 46°31'14.9'' E 028°47'01.2''So wie es aussieht gehen die Moldawier kaum zum Essen. Kein Wunder bei ihrem geringen Einkommen. Ein Lehrer verdient, so hat man uns erzählt, zwischen 300,- und 400,- Lei (18,- bis 25,- Euro) im Monat. Ein Arzt ca. 1000,- Lei (62,- Euro) im Monat. Ein Lastwagenfahrer, der bei einer privaten Firma arbeitet, kann dagegen schon zwischen 2000,- und 3000,- Lei verdienen. (125,- und 187,- Euro). Das ist der Grund warum von den knapp 4,6 Millionen Einwohnern ca. 1,5 Millionen legal und oft illegal im Ausland arbeiten. Restaurants rentieren sich in diesem Land anscheinend nicht weil die Bevölkerung dafür kein Geld ausgeben kann. Bars und Kneipen hingegen gibt es viele. Wenn die Moldawier ausgehen, dann um etwas zu trinken. Für uns ist das eine echte Herausforderung, denn nach einem anstrengenden Tag auf dem Rad würden wir gerne etwas Essen gehen. Natürlich sind wir in der Lage uns etwas auf dem Markt oder einem Geschäft zu kaufen und zu kochen, doch wenn wir in einem Hotelzimmer unterkommen ist das nicht immer einfach. Manchmal fehlt sogar die Dusche, um unseren Kocher aufzustellen. Auch sind unsere mitgebrachten Vorräte stark begrenzt. Wir können unsere Rapunzelprodukte und die gefriergetrocknete Fertignahrung von Travellunch nur dann konsumieren wenn es nichts anderes gibt.
In der Stadt Comrat fanden wir eine Pizzeria die eine mehrseitige Menükarte aufzuweisen hatte. Leider gab es nur Pizza. All die anderen Gerichte, inklusive Salat waren einfach nicht zu haben. So waren wir gezwungen uns jeden Abend von Pizza zu ernähren, bis mein überstrapazierter Magen letzte Nacht zu wimmern begann und für Schlaflosigkeit sorgte.
Wegen des erbarmungslosen Sommers in diesem Land wollten wir heute eigentlich schon um fünf Uhr aufstehen. Die einzige Möglichkeit noch vor der großen Affenhitze ein paar Kilometer zurückzulegen. Aber die schwerverdauliche Pizza hat mich bis sechs Uhr in die Matratze gepresst. Nach satten zwei Stunden Schlaf hocken wir um 7:30 Uhr auf unseren Sätteln und lassen die Kleinstadt hinter uns. Um acht Uhr zeigt das Thermometer bereits 30 Grad im Schatten an. Wieder geht es über die verabscheuten Erdrunzeln die sich geradezu endlos und massenhaft durch Moldawien wellen. Wir kommen trotzdem gut voran. Tanjas Knie macht keine Schwierigkeiten mehr. Die Straße ist wie immer grottenschlecht, so schlecht, dass wir manche Hügelzüge nur im Schritttempo herunterholpern können. Wie auch in den vergangenen Tagen geht es vorbei an einer endlos erscheinenden Alle von Walnussbäumen. Man hat uns berichtet, dass die Bäume der nach dem Reaktorunglück (Supergau vom 26. April 1986) im Kernkraftwerk von Tschernobyl in der Ukraine freigesetzte Strahlenbelastung, positiv entgegen wirken sollen. Die Walnussbäume geben angeblich jodhaltige Elemente an die Umwelt ab die wiederum die radioaktiv belastete Umwelt entlastet. Wie auch immer. Nüsse sind teuer. Sie haben nicht einmal die Chance auf dem Boden zu fallen, denn sie dürfen von der Bevölkerung geerntet werden. Nach drei Stunden erreichen wir den nächsten größeren Ort namens Cimislia. Wie ein Adler, der gerade sein Opfer entdeckt hat, stürzen wir uns aus einer Höhe von 205 Metern in die vor Hitze kochende Ansiedlung. Da der nächste Ort 60 Kilometer von hier entfernt ist und wir uns bei den Temperaturen nicht völlig verschleißen möchten fragen wir schon hier nach einer Unterkunft. Die Menschen zucken mit der Schulter. Plötzlich trillert eine Pfeife. Ein Straßenpolizist winkt uns mit strenger Gestik zu sich. “Gibt es ein Hotel?”, frage ich freundlich. “Die Straße abbiegen und dann wieder links”, verstehen wir. Wir folgen den Anweisungen und rattern über einen Asphaltstreifen der nur noch aus Fragmenten besteht. Vorbei geht es an völlig heruntergekommenen, von der Zeit angenagten, Häusern. Ein Lastwagenfahrer überholt uns und gibt uns winkend zu verstehen ihm zu folgen. “Da drüben ist das Hotel”, sagt er ein paar hundert Meter weiter und deutet auf die andere Straßenseite. “Wieso weiß er, dass wir ein Hotel suchen?”, möchte Tanja wissen. “Keine Ahnung”, schüttle ich den Kopf. Der Mann steigt aus dem Führerhaus und geht mit uns über die Straße. Es stellt sich heraus, dass es sein Hotel ist. Das Einzige in der Stadt. Insgesamt gibt es vier Zimmer. “40 Euro”, höre ich als ich nach dem Preis frage. Ein stolzer Preis wenn man bedenkt, dass ein Lehrer dafür glatte zwei Monate arbeiten muss. Das Zimmer ist sauber und relativ neu möbliert. Ich versuche zu handeln und bekomme dann für 20 Euro also 320 Lei ein kleines Einbettzimmer. Unsere Räder dürfen wir in einem Schuppen hinter dem Haus sperren. Dort wird die Wäsche zum trocknen aufgehängt. “Unglaublich, die müssen hier sogar ihre Wäsche absperren”, meint Tanja.
Da es in dem Raum 31 Grad hat und viel zu klein ist, um sich darin aufzuhalten, verlassen wir das Haus. Kaum befinden wir uns auf der menschenleeren Straße, treffen uns mindestens 41 Grad im Schatten. Verzweifelt suchen wir einen kühlen Platz, um den Nachmittag zu verbringen. Wir schleppen uns durch das scheinbar ausgestorbene Nest. “Mein Gott. Die Menschen die hier wohnen haben wahrlich keine Perspektiven im Leben”, sagt Tanja. “Ja, bin froh in Deutschland geboren worden zu sein. In so einem trostlosen Ort wie hier kann man wirklich eingehen. Es gibt nichts was einem die Zeit vertreiben kann. Kein Schwimmbad, kein Kino, keine Eisdiele, kein Restaurant in dem man sich etwas Vernünftiges zum Essen kaufen kann und höchstwahrscheinlich keine Arbeit. Ist wirklich eine aussichtslose Situation für die Bewohner”, antworte ich mir den Schweiß von der Stirn wischend. “Ich frage mich wie lange diese Hitzeperiode anhält?”, wechselt Tanja das Thema. “Wer soll das wissen. Soll ja ein außergewöhnlich heißer Sommer sein. Heißer als normal. Aber das hilft uns jetzt auch nicht weiter. Wir brauchen Schatten und dringend etwas zu trinken”, schwafle ich von der ewigen Hitze fast gar gekocht. Dann finden wir einen hässlichen Bau auf dem ein Schild mit den verheißungsvollen Buchstaben “Restaurant” lockt. Tatsächlich ist es im Inneren angenehmer, zumindest viel angenehmer als draußen. Ich zeige auf den sich abrackernden Kühlschrank hinter dessen Glasscheibe eine Limonade winkt. “Ich nehme das Tonicwasser daneben!”, ruft Tanja. Dann stellt die Bedienung die zwei Flaschen auf den Tisch. “Puh ist das Gesöff süß”, schüttle ich mich. “Vor allem voller Alkohol.” “Was? Alkohol?”, frage ich entsetz und lese auf dem Etikett das dieses scheußliche Zeugs tatsächlich 5,5 Prozent Alkohol enthält. Bei den Temperaturen genau das was wir nicht benötigen. Es dauert eine Weile bis wir uns normales Wasser organisieren.
Zwei Stunden später sitzen wir noch immer in der Kaschemme. Laute Musik hämmert jetzt aus zwei Lautsprechern. Ein paar junge Einwohner haben sich eingefunden. Sie trinken ihr Bier oder saugen an einer Cola. Die einzige Abwechslung die es hier seit langen gibt sind wie es scheint wir. Die Augen der Gäste verlieren sich öfter als normal in unsere Richtung. Mittlerweile haben wir herausgefunden, dass Pommes, Fleischbällchen und Tomaten angeboten werden. Der Salat besteht aus einer einzigen geschnittenen Tomate mit ein paar Zwiebelringen. Ich bestelle mir gleich drei davon. Die Pommes und die Fleischbällchen verschwinden ebenfalls in meinem Rachen. Geschmack kommentarlos. Bei einem Preis von insgesamt ca. 3,- Euro darf man sich nicht beschweren. Es dämmert als wir bei ca. 32 Grad zu unserer Unterkunft schlurfen. Da eiserne Gitter vor unserem Fenster jedem Langfinger den Zutritt verwehren können wir uns erlauben es nachts zu öffnen. Obwohl es kaum abkühlt fallen wir in einen Schlaf der Erschöpfung.