Mongolei/Verletzt Camp — 01.11.2011
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Am Morgen werden wir von einem kalten aber sonnigen Tag empfangen. Hochtal in der Taiga.
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Nach einer Nacht mit minus 30 °C verlässt Denis das Zelt
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Am Morgen werden wir von einem kalten aber sonnigen Tag empfangen. Hochtal in der Taiga.
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Eine bildhübsche Nomadin von kleinen Volk der Darkhaden besucht uns morgens im Camp
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Denis und Bilgee mit ihren Packpferden auf dem Weg nach Tsagaan Nuur (Weißer See)
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Tanja und Bilgee führen ihre Packpferde über ein Schneefeld
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Tanja und Bilgee führen ihre Packpferde über ein Schneefeld
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Eisiger Wind weht über das kaum bewaldete Hochtal
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Erst lange nach Sonnenuntergang erreichen wir einen Campplatz. Tanja sattelt ihr Pferd Naraa ab.
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Bei muns 20 °C gefriert der Schweiß der Pferde sofort und bildet Eiszapfen
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Um Wasser für Tee und Abendessen zu bekommen muss Tanja Schnee schmelzen
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Um Wasser für Tee und Abendessen zu bekommen muss Tanja Schnee schmelzen
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Bei minus 25 °C tippt Denis seine Aufzeichnungen in den Laptop
Nach dieser schrecklichen Nacht empfängt uns greller Sonnenschein. Nur eine zarte Wolkenformation zieht gemächlich über die nahen Berggipfel. Wie die Nomaden vorhergesagt haben hat der Temperatursturz stattgefunden. Obwohl die minus 30 °C der vergangenen Nacht durch die wärmenden Strahlen der Sonne auf minus 14 °C geschrumpft sind und es heute nicht mehr schneit, können wir nicht gerade von einem warmen Tag sprechen. Beim zusammenräumen der Zelte besucht uns wieder die Nomadin des Darkhadenstammes. Es ist eine ausgesprochen hübsche Frau die in der unendlichen Wildnis ganz alleine für ca. 30 Rinder verantwortlich ist. Noch mal erklärt sie Bilgee den Weg durch das Tal.
Kaum sitzen wir auf unseren Pferden bläst uns ein eisiger Wind um die Nase. Schnell stoppen wir, um unsere dicken Handschuhe und Fellmützen anzuziehen. Dann geht es weiter. Obzwar der Boden zugeschneit ist und sich darunter oft Eisplatten befinden, ist Bilgee fokussiert soviel wie nur möglich an Strecke zu bewältigen. Wir traben also über den unsicheren, gefährlich glatten Untergrund. Sar rutscht immer wieder mit einem Hinter- oder Vorderfuß weg. Bor fällt mehrfach auf die Knie. „Ich denke wir sollten ein wenig langsamer reiten!“, rufe ich, da ich als Treiber das unaufhörliche Rutschen der Tiere beobachten kann. Bilgee und Tanja nehmen aber keine Notiz meiner Warnung. „Na was soll’s, er wird schon wissen was er macht“, denke ich und abgesehen davon hat uns die letzte Nacht gezeigt hier so schnell es nur geht raus zu müssen. Sollten die Temperaturen noch weiter sinken werden wir uns in den Schuhen, die wir im Augenblick tragen, mit hundertprozentiger Sicherheit die Füße erfrieren oder sogar abfrieren. Selbst jetzt beim Traben spüre ich meine Zehenspitzen kaum. Bilgees Filzstiefel hingegen sind „dulaan“ (warm). Zumindest sagt er das jeden Tag.
„Tschu! Tschu! Tschuuu!“, treibe ich Sharga und Bor um die Geschwindigkeit aufrechtzuerhalten. Plötzlich rutsch Sar gleichzeitig mit dem rechten Vorder- und Hinderfuß weg. Alles spult sich vor meinem inneren Auge wie in Zeitlupe ab. Mir keine Chance lassend, meine übergroßen Schuhe aus dem rechten Steigbügel zu ziehen, fällt Sar wie ein gefällter Baum auf die rechte Seite. Er kracht mit seinem gesamten Gewicht auf meinen Oberschenkel. Meine Schulter hämmert auf den gefrorenen Boden. Dann knallt mein Kopf wie eine schwere Bowlingkugel ebenfalls auf den Schnee. Durch den schnellen Trab und der Eisfläche unter uns rutscht das Pferd ein Stück über mich und der noch immer im Steigbügel hängende Fuß verdreht sich, verdreht sich immer mehr, bis es mehrfach im Knie und im Knöchel kracht. „Aaaahhh!!!“, brülle ich vor Schmerz. Noch ehe mein Oberschenkelknochen bricht und die restlichen Bänder reißen ist das Pferdmenschknäuel zum stehen gekommen. Innerhalb eines Sekundenbruchteils rappelt sich Sar auf, während ich in Panik versuche meinen Fuß aus dem Steigbügel zu zerren und es mit einem weiteren schmerzhaften Stich fertig bringe ihn freizubekommen. Sar steht nun neben mir, bewegt sich keinen Meter weiter, während ich im Schnee liege und die Wellen des Schmerzes vom Knöchel und Knie durch meinen Körper rasen und in die Schädeldecke knallen. Dort sammeln sie sich zu einem bösartigen Wirrwarr. „Aaahhh!“, brülle ich weiter und wälze mich im Schnee als würde er mir Erlösung und Linderung versprechen. „Was ist los? Denis! Um Gottes Willen was ist los!?“, dringen Tanjas besorgte Worte durch den Schmerz- und Gedankensumpf. „Sar ist gestürzt. Oh man. Er ist wie von der Kugel getroffen gefallen und auf mich drauf“, weine und stottere ich, mir Mühe gebend mich zu konzentrieren. „Versuch aufzustehen“, fordert mich Tanja auf, die, weil gerade herangeritten, noch immer im Sattel sitzt. Mit viel Mühe komme ich auf die Beine und bin in der Lage hin und herzuhumpeln. „Es ist etwas gerissen. Ich habe es krachen gehört. Da bin ich mir sicher“, jammere ich. „Ist bestimmt nichts gerissen oder gebrochen“, versucht sie mich zu beruhigen. „Doch ist es. Man das kann doch nicht wahr sein. Zwei Tage vor dem Etappenziel“, jammere ich während sich vor meinen Augen das Horrorszenario eines Kreuzbänderrisses abspielt. „Oh bitte kein Kreuzbandriss. Lass es bitte kein Kreuzbandriss sein“, bete ich, da ich an meinem linken Knie schon vier Operationen wegen einem Kreuzbandriss über mich ergehen lassen musste. „Es ist kein Kreuzbandriss“, sagt Tanja bestimmt.
In diesem Moment könnte ich glatt die Welt um mich herum verfluchen. Ich sehne mich nach Trost und Geborgenheit. Aber die Realität um uns ist anders. Knallhart ist sie. Keine Geborgenheit. Schnee und Eis. Kälte und Frost. Kahle Bergkuppen und nadellose Lärchenbäume. Nichts empfinde ich in diesem Moment des Leidens als schön. Bilgee fragt kurz wie es mir geht. „Schlecht“, antworte ich. In seinem Gesicht entdecke ich keine Regung. Kein Mitleid, kein Trost. Auch wenn ich ein Mann bin laufen mir die Tränen über die Wangen. Das zeigt man in der Mongolei nicht. Mir ist das egal. „Steig auf Denis“, höre ich Tanja. „Steig auf? Wie denn?“, antworte ich auf Tanjas Aufforderung. „Wir müssen weiter. Hier können wir nicht bleiben. Steig auf!“, höre ich ihre erbarmungslose Stimme durch mein geschocktes Gehirn hämmern. Ich gehorche, nehme die Zügel von Sar und stehe hilflos vor ihm. „Wie soll ich da nur hochkommen?“, geht es mir durch den Kopf. Beim dritten schmerzhaften Versuch sitze ich tatsächlich wieder im Sattel. Tanja und Bilgee wenden ihre Pferde und reiten weiter. „Verdammt“, fluche ich und drücke Sar die Ferse meines linken unverletzten Beines in die Flanke. Er gehorcht und folgt den beiden. Jetzt spüre ich das Pochen im Knöchel. Nur wenig später bemerke ich, dass ich meine rechte Schulter nur mit Schmerzen bewegen kann. Ich taste sie mit der linken Hand ab. Kein Bruch. Das Schlüsselbein scheint in Ordnung zu sein. Ausgekugelt ist der Arm auch nicht da ich ihn ja bewegen kann. Mein Kopf brummt durch den Aufschlag ein wenig. Stück für Stück gehe ich nun jedes Körperteil durch. Meine gesamte rechte Hälfte fühlt sich so an als wäre ein Pferd darauf gefallen und darüber gerutscht. Und in der Tat, genau das ist geschehen.
Obwohl mir alles weht tut ist nichts gebrochen. Vielleicht ein Bänderriss oder besten Falls ein Bänderanriss im Knie? Vielleicht eine Bänderdehnung im Knöchel? Eine Prellung der Schulter. Nun, damit kann ich leben. Damit geht es weiter. Mal sehen wie es morgen Früh aussieht. Die Folgen von Bänderrissen, Überdehnungen und so weiter spürt man häufig erst richtig am nächsten Tag. Dann wenn das Blut des gerissenen Gewebes in die Gelenke geflossen ist. „Oh man. So ein Scheiß. Erst tritt und beißt mich Sharga, dann tritt mich Bor und jetzt stürzt mein Pferd auf mich. Das ganze Programm. Mir ist nicht bewusst hier geschrieen zu haben als Gott Unfälle und Verletzungen verteilt hat. „Oh bitte lass es kein Bänderriss sein“, bete ich wieder und wieder bis sich meine Gedanken klären und mir bewusst wird bisher jedes Mal mit blauen Flecken weggekommen zu sein. Hätte ja auch ein offener Oberschenkelbruch sein können. Das wäre hier draußen fatal. Keine Menschen weit und breit die einem helfen können. Jetzt sitze ich immerhin auf dem Pferd und bin in der Lage zu reiten. Also Glück im Unglück? Oder? Kein Oder. Ich hatte Glück. Bin auch in dieser misslichen Situation beschützt. Ein Grund danke zu sagen? Okay. „Danke. Danke Mutter Erde und Danke an ALLES WAS IST für euren Schutz“, flüstere ich und versuche Sar etwas antraben zu lassen, um aufzuschließen.
Dann stoppen wir für eine kurze Rast. Ich lasse mich aus dem Sattel nach unten gleiten. Humpelnd binde ich Saar an eine Wurzel. „Geht’s?“, fragt Tanja. „Zumindest bin ich bis hierher gekommen. Mal sehe was morgen ist“, antworte ich. „Morgen fühlst du dich bestimmt wieder besser. Du wirst sehen“, tröstet sie mich.
20 Minuten später trabt Bilgee voran als wäre nichts geschehen. Ich beiße die Zähne zusammen und folge ihm und Tanja. Mit einem geschwächten „Tschu!“, treibe ich Bor und Sharga an. Wegen den Schmerzen in der rechten Schulter kann ich allerdings das Seil nicht schwingen. Wir queren ein großes, zu dieser Jahreszeit ausgetrocknetes Flussbett, dann saugt uns die Taiga in sich auf nur um uns wenige Kilometer weiter wieder auszuspucken. Das Tal, welches wir schon seitdem Khuvsgl See folgen hat uns auf eine weite Hochebene entlassen. In wenigen Kilometer Entfernung wird die Fläche von rauem Gebirge eingefasst. Wir traben nun über ein ebenes Schneefeld. Die Pferde rutschen hier nur selten aber wenn es geschieht wird mein Körper von Panikwellen erfasst. Kein Erbarmen für solche Gefühle. Wir sind auf der Flucht vor der Kälte und traben und traben. Mein Knie ist taub, meine Schulter im dämmrigen Schmerzzustand und mein Knöchel wimmert. Trotzdem traben wir weiter. Die Sonne hat sich hinter die Bergketten verzogen womit die Temperaturen schnell auf minus 18 °C fallen. Eisiger, durch nichts gebremster Wind, bläst uns entgegen. Unsere Gesichter verhärten. Eis Bildet sich um unsere Mützen und um die Nüstern der Pferde. Mogi sieht schon seit langen kaum noch wie ein Hund aus sondern eher wie ein kleiner Eisbär. Immer wieder hinkt er. Eisklumpen haben sich zwischen seine Zehen gelegt. „Seit ihr irre im Winter nach Tsagaan Nuur reiten zu wollen?“, gehen mir die Aussagen der Nomaden durch den Kopf. „Sind wir irre? Ich denke nicht, aber diese Expeditionsreise hat eine Schwelle zur Grenzwertigkeit überschritten.
Schon seit vielen Jahren wollte ich auch Expeditionen in wirklich kalte Regionen unserer Mutter Erde durchführen. Jetzt sind wir in einem kalten Land und noch dazu zu Beginn des Winters. Das ist also erst der Anfang von wirklicher Kälte. Keine Ahnung wie sich minus 50 °C anfühlen. In diesem Moment, so angeschlagen wie ich gerade bin, verspüre ich nicht das geringste Interesse weitere Temperaturstürze zu erleben.
Wie in Trance sitze ich im Sattel und treibe die Pferde an. „Tschu! Tschu!“ Wir sind alle müde und geschafft. Doch auf der Ebene wächst kein einziger Baum der uns vor dem Wind Schutz bieten könnte. Und was noch schlechter ist, ohne Bäume kein Feuerholz. Also traben wir weiter. Immer weiter auf den Waldrand vor uns zu, um das überlebensnotwendige Feuerholz zu erreichen. Am Fuße eines Hügels umgehen wir die Erhöhung. Auf ihrer gesamten Böschung befindet sich ein Grab neben dem anderen. „Hast du den Friedhof gesehen?“ frage ich Tanja auf die mystisch wirkende, schattige Bergflanke deutend. „Ja“, antwortet sie durch den wärmenden Stoff ihres Gesichtsschutzes. Ich frage mich wie alt diese Gräberansammlung ist? So wie es aber aussieht begraben die hier lebenden Mongolen noch heute ihre Toten an diesem Ort.
Erst bei Dunkelheit erreichen wir nach einem Gewaltritt von 40 Kilometern den Lärchenwald unweit der Gräberansammlung. Der Schweiß der Pferde gefriert augenblicklich. Unwirklich aussehende Eiszapfen bilden sich an ihren Bäuchen und Beinen.
Der Aufbau unseres Lagers fällt mir unter den gegebenen Voraussetzungen besonders schwer und meine Laune ist wegen den Verletzungen und Schmerzen im Keller. Weil es an diesem Ort keinen See, Bach oder Fluss gibt müssen Tanja und Bilgee Schnee einsammeln, um ihn für Tee und Abendessen zu schmelzen. Wir sind überrascht welche Menge an Schnee man benötigt, um nur einen Liter Wasser daraus zu gewinnen. Es ist ein zusätzlicher und erheblicher Aufwand.
Bevor ich ins Zelt schlüpfe nehme ein Schmerzmittel und hoffe auf einen besseren Tag. Obschon ich mich gerne hinlegen würde geht auch die nächtliche Routine so weiter als wäre nie etwas geschehen. Ich schlüpfe in den Schlafsack, ziehe mir seine Haube über und setze mich auf. Damit besitze ich eine dicke Daunenhülle die den gesamten Körper vor der Kälte schützt. Dazu ziehe ich Wollhandschuhe an und eine Mütze in die nur Schlitze für Augen und Mund eingearbeitet sind. Somit ist kein Zentimeter Haut der eisigen Luft freigesetzt. Dann ziehe ich mir den Laptop auf den Schoß, den ich vorher schon mindestens 30 Minuten auf meine Wärmflasche gelegt habe, um ihn aus seiner frostigen Klammer zu befreien. Auf diese Weise ist es mir dann bei jetzigen minus 20 °C möglich ein kälteempfindliches Hightechgerät wie einen Laptop zu nutzen. Ich stecke den 12 Volt Anschluss in die Autobatterie deren Ladezustand jetzt bedenklich tief ist.
Obzwar das auf Bor verschnürte Solarpanel jeden Tag mit der Batterie verbunden ist, sinkt der Ladezustand. Das Wetter war wegen den Wolken und Schneefall zu schlecht, um genügend Sonnenenergie einfangen zu können. Trotz meiner Bemühungen wird der Rechner nach einiger Zeit immer langsamer, so langsam sogar, dass ich bedenken habe die Festplatte friert fest. Um die Existenz meines Arbeitsgerätes nicht zu gefährden bin ich gezwungen ihn auszuschalten. Zweifelsohne befinden wir uns mit augenblicklichen minus 25 °C in einem Temperaturbereich der trotz aller Tricks jeglicher Technik den Gar ausmacht. Ich lege mich ab und harre der Dinge. Mein Körper wimmert leise vor sich hin. Das Schmerzmittel, welches gleichzeitig auch ein Entzündungshemmer ist, wirkt zum Glück. Konzentriert lausche ich während meiner Wachschicht in die frostige Nacht und hoffe nicht, dass sich wieder ein Pferd losreißt.